Das Zauberer Handbuch
unserer Charaktere jedoch von zentraler Bedeutung, denn in ihr wird der Ausgang der Geschichte bereits in den Grundzügen festgelegt.
In engem Zusammenhang mit der Vergangenheit des Helden stehen natürlich die Erfahrungen, die wir ihm angedeihen lassen. Hier gilt die bereits eingangs erwähnte Faustregel, dass die Erlebnisse unserer Figuren ruhig ganz phantastischer Natur sein dürfen; die sich daraus ableitenden Erfahrungen jedoch sollten durch und durch erdgebunden sein, denn erst dadurch werden sie für den Leser nachvollziehbar.
Keiner von uns kann behaupten, dass er wüsste, wie es ist, wenn die Eltern von einem bösen Zauberer getötet wurden, als man noch ein Baby war; wenn man von dieser Begegnung ein blitzförmiges Mal auf der Stirn davongetragen hat und irgendwann erfährt, dass man ebenfalls ein Zauberer ist. Dennoch ist es J.K. Rowling gelungen, all dies auf sehr anschauliche Weise zu schildern und so den Schulterschluss zwischen dem Leser und dem fiktiven Helden Harry Potter herbeizuführen. Wie hat sie das gemacht? Ganz einfach, indem sie auf allgemeingültige Erfahrungen ihrer Leser zurückgegriffen hat. Natürlich kann niemand von sich behaupten genau wie Harry zu fühlen (nicht einmal Frau Rowling selbst), aber jeder von uns hat schon Trennungsschmerz verarbeiten, Ängste durchleben und sich neuen Herausforderungen stellen müssen – Erfahrungen, die wir mit den Romanhelden teilen.
Der Rückgriff auf menschliche Grunderfahrungen ist in jedem fiktiven Werk wichtig, ganz besonders aber in der Fantasy, da wir so das Phantastische für den Leser erst erfahrbar machen. Wir können eine Horde angreifender Trolle noch so wortreich schildern – erst wenn wir berichten, dass sich unser jugendlicher Held bei ihrem Anblick übergeben muss, folgt uns der Leser auch emotional.
Die Erfahrungen, auf die ein Roman zurückgreift, können mitunter auch so speziell sein, dass Bücher auf ein bestimmtes Geschlecht und/oder Leseralter zugeschnitten sind, man denke nur an TWILIGHT. Die Tochter einer Freundin hat mir erzählt, dass sie die Romane im Alter von fünfzehn Jahren verschlungen hat, jedoch schon zwei Jahre später nichts mehr damit anfangen konnte – das zeigt ganz deutlich, in welchem Maße (und wie überaus gekonnt) Stephenie Meyer ihre Romane auf die Gefühle und Empfindungen heranwachsender Mädchen hin ausgerichtet hat.
Spezialfall Schurken
Was über die Helden und ihre Charakterisierung gesagt wurde, gilt grundsätzlich auch für seine Kontrahenten. Auch Schurken, vom Gegner bis hin zum Feind, gewinnen an Kontur und Schärfe, wenn wir den Leser an ihren Gedanken und Motiven teilhaben lassen und ihn so – wie Hitchcock es ausgedrückt hätte – zum Komplizen, ganz sicher aber zum Mitwisser ihrer dunklen Pläne machen. Die Werkzeuge, die uns dazu zur Verfügung stehen, sind im Prinzip dieselben wie bei positiv besetzten Figuren – auch Schurken lassen sich trefflich über ihr Aussehen, ihre Taten und Denkweise und auch über ihre Vergangenheit charakterisieren.
Gerade die Tat ist das klassische Mittel, um einen Bösewicht einzuführen – so wie viele Krimis mit einem Mord beginnen, kommen auch in der Fantasy oft gleich zu Beginn die Schurken zum Zug, damit der Leser von Beginn an weiß, welcher Art die Bedrohung ist, gegen die der Held später ankämpfen muss: In beiden CONAN DER BARBAR-Streifen, dem Original von 1982 und dem Remake von 2011, werden wir zunächst Zeugen, wie das Dorf des Helden überfallen und die Bewohner massakriert werden; in WILLOW von 1989 lässt die böse Königin Bavmorda in einer biblisch anmutenden Hetzjagd alle neugeborenen Mädchen von ihren Schergen töten; und in STAR WARS lernen wir den Schurken kennen, lange bevor uns der Held der Geschichte begegnet.
Dass das Muster besonders in Filmen so häufige Anwendung findet, liegt daran, dass es auf sehr zeitsparende und zudem spannende Weise sowohl den Schurken als auch den zentralen Konflikt der Handlung vorstellt. Im Roman stehen wir glücklicherweise nicht ganz so unter Zeitdruck, jedoch kann auch hier ein anfänglicher Auftritt der Schurken helfen, um die Stimmung festzulegen und dem Leser einen ersten Ausblick auf die Ereignisse zu geben, die im Lauf des Buchs über ihn hereinbrechen werden. Die Ritualszene am Anfang von DIE ZAUBERER z.B. dient genau diesem Zweck: Einerseits wollte ich die Schurken auftreten lassen, um das Bedrohungsszenario zu schildern; andererseits ging es mir auch darum, dem Leser
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