Das Zauberer Handbuch
versickerte.
» Skorpione « , knurrte Guillaume de Rein. » Wie ich sie hasse. «
Oder aber, wir ziehen die Optik auf die dankbar größte Brennweite auf und geben unseren Lesern einen Establishing Shot , der ihnen zunächst einen Überblick über das Wo und Wie der kommenden Szene gibt, ehe wir zu unseren Figuren kommen – so geschehen in DIE ZAUBERER:
Es gab Leute, die nannten Andaril eine Burg, was zum Teil richtig war, denn ein zinnenbewehrter Turm bildete den Mittelpunkt der Siedlung, in den bei Gefahr zumindest jene flüchten konnten, die es verstanden hatten, sich beizeiten die Gunst und das Wohlwollen des Fürsten Erwein zu sichern.
Manche nannten Andaril auch eine Stadt, was auf die vielen Hütten und Häuser zurückzuführen war, die sich rings um die Burg erstreckten und zwischen denen sich ein unüberschaubares Gewirr enger und engster Gassen wand. Händler boten dort ihre Waren feil, und wie es hieß, gab es kaum etwas, das es in Andaril nicht zu kaufen gab, von der Liebe einer Hure bis hin zur Klinge eines gedungenen Mörders. Und dann waren da noch jene, die Andaril schlicht als Dreckloch bezeichneten, als stinkenden Haufen Abfall.
Granock gab diesen Leuten durchaus recht …
Natürlich kann der Einstieg in eine Szene auch auf anderen Weg gefunden werden – durch den subjektiven Blickwinkel einer handelnden Figur etwa, oder in der Mitte eines laufenden Gesprächs wie in SPLITTERWELTEN:
» Nun? Hast du es dir überlegt? «
Die Zeit in dem unterirdischen, aus Stein gemauerten Gewölbe, dessen einzige Lichtquelle ein schwelendes Kohlenfeuer war, schien stillzustehen. Die Luft war von bitterem Brandgeruch erfüllt. Von Fäulnis. Und vom sauren, ekelerregenden Gestank nackter Furcht.
Die Augen des Mannes waren geweitet, die bleichen Züge mit den hervorspringenden Wangenknochen hatten einen flehenden Ausdruck angenommen. Sein fleckiges Kerkergewand klebte schweißdurchtränkt an ihm. Die Gelenke seiner Arme und Beine steckten in eisernen Schellen, die mittels zweier Schraubzwingen verschlossen worden waren; dazwischen, auf der hölzernen Folterbank, lag sein zum Zerreißen gespannter Körper.
» I-ich weiß es nicht « , beteuerte er zum ungezählten Mal.
Wenn der Einstieg in eine Szene gut gewählt ist – und man merkt meist ziemlich schnell, ob das der Fall ist oder nicht –, kommt der Rest ganz von allein. Der Einstieg gibt den Tonfall und die Stimmung der Szene vor. Wenn er passt, kann man die Handlung laufen und die »Schauspieler« agieren lassen. Dies sind fraglos die Momente, in denen das Schreiben am meisten Freude bereitet, dann nämlich, wenn die Figuren von selbst zu agieren beginnen und sich innerhalb der Logik ihrer Rollen bewegen. Dann sitzt der Autor als Zuschauer in seinem eigenen Kopfkino und braucht im Grunde nur noch zu beschreiben, was geschieht. Solche Phasen können schon nach wenigen Minuten wieder vorbei sein, sich aber durchaus auch in einen Zustand steigern, der etwas Rauschhaftes hat, weil es nicht ganz einfach ist, sich wieder daraus zu lösen – das ist dann der berühmte Schreibzwang, dem Autoren bisweilen unterliegen, und zwar so lange, bis die Szene, das Kapitel oder (in extremen Fällen) der ganze Roman fertiggestellt ist.
Für das soziale Umfeld des Autors ist das wie erwähnt manchmal nicht ganz einfach, für den Autor selbst jedoch eine ziemlich beglückende Angelegenheit. Stellt euch vor, ihr würdet ein Buch lesen, das sich nur aus euren Lieblingsbüchern zusammensetzt, ein literarisches Best of von allem, was euch je an einem Buch gefallen hat – dann wisst ihr ungefähr, was ich meine. Das Finden des richtigen Einstiegs ist also von erheblicher Bedeutung, nicht nur für den Anfang einer Szene, sondern für ihren ganzen weiteren Verlauf. Deshalb sollte man darauf besonders große Sorgfalt verwenden.
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Eine Frage der Perspektive
Eine Entscheidung, die oft bereits in der Planungsphase des Romans getroffen wird, spätestens jedoch bei der konkreten Ausarbeitung ansteht, ist die der Perspektive: Aus wessen Sicht sollen die Geschehnisse der Geschichte geschildert werden? Und auf welche Weise soll dies geschehen?
Obwohl die Literaturwissenschaft viel zum Thema Erzähltheorie und -perspektive zu sagen hat, ist das in den 1950er-Jahren von Karl Stanzel entwickelte Modell noch immer gültig und, wie ich finde, auch sehr praxisnah. Stanzel unterscheidet zwischen Person, Modus und Perspektive und definiert damit die unterschiedlichen
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