Das Zauberer Handbuch
Erzählers verlassen, um die Ereignisse jeweils aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, können wir dies nutzen, um die jeweiligen Figuren ihre jeweiligen Handlungen reflektieren zu lassen – der Held kann auf diese Weise ins Zweifeln geraten, der Schurke uns seine Ziele und Motivation auseinandersetzen, der Lehrer uns dank seiner Erinnerung an früheren Zeiten teilhaben lassen. Selbstreflexion und innere Monologe, wie wir sie sonst nur vom Ich-Erzähler kennen, werden dadurch möglich und können in den Handlungsverlauf integriert werden, ohne dass der Leser dadurch in Verwirrung gerät – wichtig ist, dass es nicht zu viele verschiedene Erzählperspektiven in einem Roman gibt, sodass der Überblick erhalten bleibt; und es sollte klar gekennzeichnet sein, aus wessen Sicht ein Kapitel beschrieben ist. Bisweilen kann es reizvoll sein, dieselben Ereignisse aus zwei verschiedenen Perspektiven – z.B. der des Helden und seines Gegenspielers – zu schildern, um damit einen besonderen dramatischen Effekt zu erzielen. Für gewöhnlich genügt es aber vollauf, den Fortgang der Ereignisse aus jeweils nur einer Sicht zu beschreiben. Auch wenn die Figuren nichts voneinander wissen und der Erzähler zumindest so tut, als wüsste auch er nicht, was zur selben Zeit andernorts geschieht, ist der Leser dennoch in der Lage, die aus verschiedenen Perspektiven geschilderte Handlung wie die Teile eines Puzzles zu einem großen Ganzen zusammenzusetzen.
Dafür, dass es dieses große Ganze gibt, sorgt der auktoriale Erzähler, der zwar im Hintergrund bleibt und eine personale Sicht der Dinge vorgaukelt, jedoch alle Handlungsfäden in der Hand hält und gewissermaßen für die Sinnhaftigkeit der Geschichte bürgt. Tut er das mit Überzeugung, werden die Leser ihm vertrauen und ihm auch in die exotischsten Gefilde folgen. Lässt er hingegen Zweifel aufkommen, z.B. durch innere Widersprüche oder andere Ungereimtheiten, ist die Glaubwürdigkeit der Geschichte insgesamt in Gefahr.
Zum Wesen des phantastischen Erzählers gehört, dass er nicht einmal im Ansatz an der Realität der von ihm geschilderten fiktiven Welt zweifelt, warum auch? Zweifel müsste ja, wenn überhaupt, nur der Autor haben. Selbst die abenteuerlichsten Begebenheiten, die atemberaubendsten Schauplätze und wildesten Kreaturen wird er mit Gelassenheit, ja mit echter Selbstverständlichkeit zur Kenntnis nehmen, schließlich soll er diese phantastische Welt für den Leser ja plausibel und erfahrbar machen, und das kann er nur, wenn er selbst damit vertraut ist. In SPLITTERWELTEN beispielsweise ist die erste Figur, auf die die Leser treffen, die Gildeschwester Glennara, die in diesen neuen, aus Tausenden von Weltensplittern bestehenden Kosmos einführt, der für sie zur selbstverständlichen Lebensrealität gehört.
Anders verhält es sich natürlich, wenn der Erzähler die Perspektive einer Figur annimmt, die genau wie der Leser zum allerersten Mal diese Welt betritt – wie in all jenen Fantasy-Geschichten, in denen die Protagonisten durch ein »magisches Tor« aus ihrer (bzw. unserer) Wirklichkeit in eine Phantasiewelt gelangen. Das Paradebeispiel einer solchen Handlung ist natürlich Lewis Carrolls ALICE IM WUNDERLAND, aber es lassen sich auch unzählige weitere Beispiele finden, von Edgar Rice Burroughs’ JOHN CARTER-Romanen über die OZ-Erzählungen von L. Frank Baum bis hin zu C.S. Lewis’ NARNIA-Chroniken und Wolfgang Hohlbeins MÄRCHENMOND. Hier darf auch der auktoriale Erzähler über sprechende Kaninchen, grünhäutige Riesen, herzlose Blechmänner und vieles andere staunen, zusammen mit dem Leser, der ebenfalls zum ersten Mal in jener Wunderwelt weilt und wie die kleine Dorothy zu der Erkenntnis gelangt: »We’re not in Kansas anymore « .
Oder, wie Balbok es so schön ausdrückte: »Wir sind nicht mehr in der Modermark.«
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Beschreibungen
Beschreibende Passagen in einem Roman sind heikel. Einerseits wollen und müssen wir dem Leser alle Informationen geben, die er braucht, um eine Szene zu verstehen; wir wollen Atmosphäre aufbauen und Spannung vermitteln, die Illusion einer fiktiven Welt zum Leben erwecken. Andererseits hat (wieder einmal) das mediale Zeitalter dafür gesorgt, dass beim Leser eine gewisse Ungeduld vorherrscht, die den Autor drängt, beizeiten zu Potte zu kommen. Wie lang oder kurz eine Beschreibung zu sein hat, hängt von vielen Faktoren ab: Natürlich von der angepeilten Leserschaft, vom Stil des Romans und seinem
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