Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
verlieren – sieh, sie kniet da im Schatten. »Warte auf den Zauberspruch«, sagte er immer wieder, »dann läufst du geradewegs zu ihr.«
»Ich weiß, ich weiß!«, sagte ich. Dann kamen Mönche mit ihren prasselnden Fackeln. Als sie die Fackeln an die Stelle hielten, wo wir standen, fragte ich mich, warum sie nicht besser aufpassten. Dann knisterte es. Rauch stieg auf und die Leute keuchten und schrien und plötzlich waren wir von Flammen umgeben. Meine Eltern husteten und meine Mutter sagte: »Jetzt!« Und dann hörte ich meine Eltern den Zauberspruch sagen: »Yit ’ gadal v ’ yit ’ kadash, sh ’ mei raba!« Wie ein Äffchen hüpfte ich über die Flammen, aber trotzdem verbrannten sie meine Füße und Beine so sehr, dass ich sehr schnell rannte, um wegzukommen. Ich hustete und würgte wegen des Rauchs. Die schrecklichen Schreie wurden immer lauter und dann kam die Nonne in den Qualm und bedeckte mich mit ihrem Habit und wir eilten davon. Als sie den Umhang wegnahm, war ich wieder ein kleines Mädchen, und ich weinte, weil mir die Beine und Füße so sehr wehtaten. Und dann hatte sie doch keine Süßigkeiten für mich!
Die Äbtissin gab ihr das letzte Stück Nougat. Sanchia aß es und dabei huschte ihr sorgenvoller Blick von einer Nonne zur anderen. Ihre Beine und Füße haben fürchterliche Narben und sie wiederholt den »Zauberspruch«, das jüdische Gebet für die Toten, immer und immer wieder, in dem Glauben, er würde sie irgendwie wieder mit ihrer Familie vereinen. Oh lieber Gott, ihre Familie ist Asche im Wind. Und wenn der Untersuchungsbeamte der Inquisition kommt, Fragen stellt und die Kinder prüft … Wenn sie diese Worte wiederholt, verrät sie sich und uns … Wir wagen nicht, daran zu denken.
Als Esperanza Sanchia in die sala de las ni ñ as zurückbrachte, reichte die Äbtissin mir den Brief von der Inquisition. Las Golondrinas wird bald an der Reihe sein. Die Äbtissin berührte die Medaille um ihren Hals.
November 1551
Als der erste Schnee des Herbstes fiel, kam die Äbtissin aufgeregt in die Bibliothek und schickte Esperanza mit einem Auftrag hinaus. »Sor Beatriz! Ich habe die Gründerin gesehen! Ich war im Kreuzgang, als es zu schneien begann, und betete um Beistand, wie wir Esperanza und die anderen schützen könnten, und dabei dachte ich, dass der Schnee alles verbirgt. Plötzlich war sie da und ihr Umhang bauschte sich genau so hinter ihr, wie es immer beschrieben wird. Sie sagte: ›schickt sie‹, ›Bräute‹ und ›Spanischamerika‹, doch mehr konnte ich nicht hören. Sie verschwand ebenso plötzlich, wie sie erschienen war.«
Ich fragte mich, ob sie sich das alles nur eingebildet hatte. Die Äbtissin ist recht alt, älter als ich, und in großer Sorge. Sie besteht darauf, dass unsere fünf Mädchen sich nützlich machen. Zu unserer Überraschung zeigt die mürrische Marisol großes Geschick bei der Betreuung der Kinder im Waisenhaus und an den meisten Tagen führt sie Aufsicht in der sala de las ni ñ as . Die ruhige P í a sitzt oft bei Luz, hilft ihr beim Flicken und Stopfen, und Esperanza arbeitet natürlich jeden Tag mit mir zusammen. Die Äbtissin holt Sanchia, so oft es geht, zu sich und versucht, sie auf eine Überprüfung durch die Inquisition vorzubereiten, ohne sich zu verraten. Sie erzählt ihr eine Heiligengeschichte nach der anderen und lässt sie sie wiederholen, ebenso wie ihren Katechismus und ihre Gebete und den Rosenkranz, sodass Sanchia die richtigen Antworten geben kann, wenn sie gefragt wird. Keine von uns glaubt, dass dieses Vorhaben gelingen wird, doch wir haben nicht das Herz, es der Äbtissin zu sagen.
Wir versuchen, uns auf die Weihnachtsfeierlichkeiten zu freuen, und auf die Feier, wenn Sor Serafina nach der Fastenzeit die Profess ablegt. Diese Feier wird größer ausfallen als sonst. Sor Serafina ist die Tochter eines reichen Witwers mit Ländereien und Silberminen in der neuen Welt. Anders als viele andere Novizinnen kam sie nicht als Waisenkind zu uns, sondern trat in das Kloster Las Golondrinas ein, nachdem sie in einem anderen Kloster zur Schule gegangen war. Sor Serafina ist eine lebhafte und schwatzhafte junge Frau. Ihre älteren Halbbrüder mögen sie sehr. Sie schicken ihr Briefe mit allerlei Neuigkeiten und in diesem Jahr unternahmen sie gar eine Reise zum Kloster, bevor das kalte Wetter einsetzte, um ihre Schwester zu besuchen. Sie sind schon mehrmals in den spanischen Kolonien gewesen, um sich dort um die Geschäfte ihres
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