Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
sind – nur Gott kann über uns urteilen. Und dennoch erzeugt die Kirche Uneinigkeit und Blutvergießen. Aber wir müssen tun, was wir können.« Sie legte einen Stapel von Pergamentfetzen aufeinander, während sie sprach, doch es war unmöglich festzustellen, ob diese Stücke aneinanderpassten.
Dann machte ich eine glückliche Entdeckung. Die Schriftrolle, die als letzte beschrieben wurde, war neuer und hatte daher weniger Schaden gelitten. Sie war angenagt, aber einzelne Teile waren noch leserlich. »Hier ist etwas, Mutter Äbtissin. Dieses Stück passt an dieses. Seht … Man kann etwas von dem Geschriebenen lesen … In der Zeit der Herrschaft des Abu l-Hasan Ali, Sultan von Granada, kam unsere Gründerin zu uns … «
Die Äbtissin rief aus: »Ein Wunder! Deo gratias. Ich glaube, es war zur Zeit des Abu l-Hasan Alis! Ist der Rest leserlich? Könnt Ihr es entziffern?«
»Noch nicht. Ich werde versuchen, das zu kopieren, was leserlich ist, und den Sinn zu entschlüsseln. Aber, Mutter Äbtissin, ich habe eine Idee. Warum sollten wir nicht diese Gelegenheit ergreifen und eine richtige Chronik unseres Ordens beginnen, wie Ihr es immer gewünscht habt? Wir könnten das Geschenk der Abenzucars verwenden.«
Die Abenzucars – auch heute noch ein bittersüßer Name – hatten uns ein sehr schönes Geschenk für das Skriptorium geschickt: ein großes Buch mit unbeschriebenen Pergamentseiten, so wunderbar bearbeitet, dass sie fast durchscheinend sind. Sie sind viel besser als die alten Schriftrollen, die nach Ziegen stanken. Das Buch ist in Leder gebunden, mit goldenen Verzierungen. Es ist sogar eine goldene Schwalbe auf dem Einband zu sehen. Es wurde uns als Dank für einen heilsamen Kräuterbalsam aus unserem Garten geschickt. Dabei handelte es sich um Kräuter, die in den tiefer gelegenen Gegenden nicht wachsen, und die Abenzucars brauchten den Balsam, als ihre jüngste Tochter nach der Niederkunft nicht heilen wollte und sie um ihr Leben fürchteten. Die junge Frau genas, Deo gratias . Salomés Tante. »Das Buch lässt sich leichter vor Ratten schützen als das Durcheinander aus alten Schriftrollen und es hat genügend Seiten für die Aufzeichnungen vieler Jahre.«
Die Äbtissin nickte, erhob sich und wischte sich den Staub von den Händen. »Wir dürfen nicht vergessen, dass Gott sogar Katastrophen mit Absicht schickt. Ja, nehmt das Buch der Abenzucars. Es ist groß und wenn Ihr in kleiner, enger Schrift schreibt, passt sehr viel hinein. Und natürlich kann ein einzelnes Buch so geschützt und sogar transportiert werden, wie es bei Schriftrollen unmöglich ist. Und ich sehe einen weiteren Vorteil. Unser Evangelium fällt auseinander; es könnte in die neue Chronik kopiert werden, bevor es ebenso verloren ist wie die Schriftrollen.«
Das Evangelium! Daran hatte ich nicht gedacht, doch die Äbtissin hatte recht. Obwohl die Ratten es in der silbernen Kassette, in der es aufbewahrt wurde, nicht annagen konnten, so wurde es doch allmählich von der Zeit zerstört. Wenngleich die Nonnen das Evangelium natürlich auswendig kennen, ist es ein Ritual unseres Ordens, dass eine Nonne am Abend vor ihrer Weihe eine besondere Audienz bei der Äbtissin hat, bei der sie den Segen der Äbtissin und ihre Worte des Willkommens entgegennimmt und ihr unser großer Schatz, das alte Evangelium, gezeigt wird. Als ich an der Reihe war, sah ich aufgeregt zu, wie sie es aus seinem silbernen Behältnis nahm. Das kostbare Dokument ähnelte einem Bündel trockener Blätter, so alt, dass sie zerfielen und ihr kleine Fetzen davon in den Schoß fielen. Leider ist das Evangelium, auch wenn es nicht von Ratten angenagt wurde, kaum in einem besseren Zustand als unsere armen zerstörten Schriftrollen.
Die Äbtissin hatte recht: Unser Evangelium muss bald kopiert werden, sonst ist es verloren. Es muss jedoch auch vor der Inquisition geschützt werden, aus demselben Grund, aus dem sie diese Chronik nicht finden dürfen, in der das Erscheinen unserer Gründerin und die Medaille der Äbtissin erwähnt werden. Beides untergräbt die Doktrin und die Macht einer Kirche, in der Männer Gott nach ihrem eigenen Abbild neu ersinnen und Frauen ihre wahre Spiritualität versagen. Würden Evangelium und Chronik entdeckt, wäre es unser aller Ende, und die darauf folgende Zerstörung würde verhindern, dass die Wahrheit jemals ans Licht kommt, wie die Äbtissin glaubt, dass es eines Tages geschehen wird.
Die Äbtissin erhob sich und rieb sich entschlossen die
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