Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
das, was wir an Getreide, Öl und Trockenfrüchten haben, damit alle etwas bekommen. Die Nonnen fasten natürlich so viel wie möglich – der Glaube ist ein großer Bewahrer des Lebens −, doch die Kinder im Waisenhaus und die Patienten in unserem Hospital müssen essen. Unablässig kämpfen wir darum, unsere Vorräte vor den Ratten zu schützen. Möge Gott uns alle bis zum Sommer und zur nächsten Ernte erhalten.
Frühjahr 1512
Plötzliches Tauwetter, wie es in der Fastenzeit bisweilen vorkommt, hat in der vergangenen Woche eine Katastrophe über das Dorf gebracht. Als der Schnee schmolz, begrub ein Erdrutsch einen tiefer gelegenen Hang unter sich, an dem die Ziegen und Schafe des Dorfes grasten. Die Tiere wurden mitgerissen und fünf Männer, die sie hüteten, wurden schwer verletzt in unser Hospital gebracht. Die Schwestern kämpfen um das Leben von vieren von ihnen, doch der fünfte wird ganz gewiss sterben. Er hat eine schwangere Frau und viele Kinder, die ohne ihn mittellos dastehen und denen wir helfen müssen.
Um diese Zeit des Jahres sind unsere Vorratskammern fast leer. Die Äbtissin hat die letzten Reste an Zucker und Mehl, die wir noch gehortet hatten, zu polvor ó nes verbacken. Der Bruder des sterbenden Mannes will sie in der Stadt verkaufen. Er nimmt den alten, aber steileren Maultierpfad, der zwischen den Bäumen hindurchführt. In der Osterzeit sind unsere polvor ó nes in den Häusern der Reichen sehr begehrt und der Bruder wird dann im Tal der Schwalben so viele Lebensmittel einkaufen, wie sie erübrigen können, damit wir sie unter den hungrigen Dorfbewohnern verteilen. Im Kloster gibt es zu den Mahlzeiten nur noch einen dünnen Haferschleim, doch Nonnen können vom Gebet allein leben. Salomé bekommt den größten Anteil meiner Portion. Sie ist zu dünn und ihre Haut sieht fast durchscheinend aus.
Sommer 1514
Wir haben Nachricht, dass man die spanischen Gouverneure auf der Insel Hispaniola für ihre Behandlung der Eingeborenen dort kritisiert und dass in Sevilla die Pest viele Todesopfer gefordert hat. Wir beten für die Priester, die die Gewalt gegen die Indios verurteilt haben, und sprechen Novenen für ein Ende der Pest, für die Toten und die Sterbenden. Das Heilige Offizium schickte einen weiteren Brief, in dem es eindringlich darauf hinweist, dass es die Pflicht der Gläubigen sei, all jene anzuzeigen, die im Verdacht stehen, falsche Christen zu sein. Die Äbtissin war für den Rest des Tages schlecht gelaunt.
An dem Hang unterhalb des Klosters sind Terrassen angelegt worden und die Apfelbäume und die neuen Olivenbäume gedeihen prächtig. Unsere Hühnerschar wird größer, das Federvieh sucht sich sein Futter unter den Bäumen, doch wegen der Füchse müssen wir achtgeben, dass wir sie zur Nacht alle in ihren Stall scheuchen. Wir lassen besondere Messen lesen, auf dass wir in diesem Jahr eine gute Ernte haben.
Frühjahr 1518
Zwei reisende Mönche ersuchten die Äbtissin um Erlaubnis, am locutio des Skriptoriums wegen medizinischer Dinge mit mir sprechen zu dürfen. Sie waren auf der Suche nach einem Heilmittel gegen den Biss eines tollwütigen Hundes. Durch die Gitterstäbe im Skriptorium flüsterten sie, sie hätten gehört, dass die Ungläubigen eine Medizin hätten, die ganz sicher wirke. Und sie waren in schrecklicher Sorge um ihren Bruder, den der Hund gebissen hatte. Ich unterbrach meine Arbeit und suchte die Abhandlung von Avicenna, doch ihr verstohlenes Drängen ließ mich vermuten, dass sie Informanten der Inquisition waren. Da Avicenna ein muslimischer Arzt war, sagte ich ihnen, dass wir das Heilmittel, das ich ihnen kopiert hatte, vor zweihundert Jahren von einem christlichen Einsiedler bekommen hätten, der in einer Berghöhle in der Nähe gelebt habe. Vielleicht hätten sie von dem Buch gehört, das sein Gefolgsmann geschrieben habe? Ein sehr heiliger Mann. San Hieronimo habe ihm das Heilmittel offenbart. Ich schärfte ihnen ein, dass es nur wirken würde, wenn es mit reinem Herzen angewandt und dazu besondere Gebete an die Jungfrau und den Heiligen Antonius gesprochen würden.
Die Mönche können nicht lesen.
September 1520
In diesem Spätsommer folgten zwei königliche Prinzessinnen den Spuren der verstorbenen Königin und statteten uns einen Besuch ab, in Begleitung vieler edler Damen. Ihr Gefolge hinterließ großen Eindruck. Schneeweiße Maultiere zogen ihre Kutschen, sie wurden von Vorreitern mit farbenfrohen Bannern, einer großen berittenen Garde in
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