Das Zeichen des Vampirs - The Society of S
unangemessen fröhlich klangen. Michael machte mir auf. Er hatte ebenfalls abgenommen, aber viel mehr als ich.
Er sah mich mit einem erwartungslosen Blick an. Ich legte ihm in einer schwesterlichen Geste die Hand auf die Schulter. Wir gingen ins Wohnzimmer und setzten uns nebeneinander aufs Sofa. Fast eine Stunde lang sagte keiner von uns ein Wort. An der Wand hing ein Kalender, auf dem Jesus abgebildet war, der eine Schafherde hütete. Das Kalenderblatt zeigte den Monat November.
Schließlich sagte ich mit einer Stimme, die fast nur ein Flüstern war: »Wo sind die anderen?« Das Zimmer war ungewöhnlich aufgeräumt und im ganzen Haus herrschte Stille.
»Dad ist arbeiten«, sagte er. »Die Kleinen sind in der Schule. Mom liegt oben im Bett.«
»Warum bist du nicht in der Schule?«
»Ich kümmere mich um alles, was hier anfällt.« Er warf seine Haare, die mittlerweile so lang wie meine waren, nach hinten. »Ich putze. Kaufe ein. Koche.«
Der verlorene Ausdruck in seinen Augen machte mich unendlich traurig. »Geht es dir einigermaßen?«
»Hast du das von Ryan gehört?«, fragte er mich, als hätte ich gar nichts gesagt. »Er hat letzte Woche versucht, sich umzubringen.«
Nein, darüber hatte ich nichts gehört. Und ich hätte auch nicht gedacht, dass Ryan zu so etwas in der Lage wäre.
»Sie haben in den Zeitungen absichtlich nicht darüber berichtet.« Michael rieb sich die Augen. »Er hat Tabletten geschluckt. Liest du die Blogs im Internet? Die behaupten da, er hätte sie umgebracht.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Ryan war.« Ich entdeckte rote Striemen auf Michaels Unterarmen, die aussahen, als würde er sich ständig kratzen.
»Ich auch nicht. Aber die anderen denken, dass er es war. Sie glauben, er hätte eine Gelegenheit und ein Motiv gehabt. Angeblich soll er neidisch auf sie gewesen sein. Davon hab ich aber nie etwas mitbekommen.« Er sah mich mit einem abwesenden Blick an. »Da fragt man sich, wie gut man jemanden überhaupt kennen kann.«
Mehr gab es eigentlich nicht zu sagen. Ich blieb noch eine weitere halbe Stunde neben ihm sitzen, als ich es plötzlich nicht mehr länger aushielt. »Ich muss gehen«, sagte ich.
Er sah mich verblüfft an.
»Ach so, ich hab übrigens Unterwegs gelesen.« Ich fragte mich, warum ich das gesagt hatte.
»Echt?«
»Ja, und es hat mir wirklich gut gefallen.« Ich stand auf. »Ich hab mir überlegt, dass ich Lust hätte, selbst ein bisschen zu reisen und unterwegs zu sein.«
Abgesehen von meiner unbestimmten Sehnsucht, die Welt
zu entdecken, hatte ich eigentlich nie konkret darüber nachgedacht. Aber in diesem Moment hatte ich plötzlich das Gefühl, dass das genau das Richtige wäre, um der lähmenden Starre um mich herum zu entkommen. Ich würde tun, was mein Vater und Dennis nicht getan hatten - ich würde der Spur meiner Mutter folgen und herausfinden, was mit ihr geschehen war.
Michael brachte mich zur Tür. »Pass gut auf dich auf, falls du’s wirklich machst.«
Wir sahen uns ein letztes Mal an. Seine Augen waren stumpf und ausdruckslos. Ich fragte mich, ob er Drogen nahm.
Auf dem Nachhauseweg dachte ich über meinen neuen Plan nach. Warum sollte ich nicht für eine Weile von hier fortgehen? Warum nicht versuchen, meine Mutter zu finden? Ich weiß nicht, ob es am Wetter lag oder daran, dass ich Michael gesehen hatte, oder ob es das Bedürfnis war, mich endlich aus meiner Schwermut zu befreien, aber ich sehnte mich nach Veränderung.
Meine Mutter hatte eine Schwester, die in Savannah lebte. Ich könnte sie besuchen. Vielleicht konnte sie mir sagen, weshalb meine Mutter uns verlassen hatte. Vielleicht lebte meine Mutter immer noch irgendwo in der Nähe und wartete darauf, dass ich sie fand.
Trotz meiner umfassenden Bildung wusste ich fast nichts über die Entfernungen in unserem Land. Ich hätte dir sagen können, wie weit die Erde von der Sonne entfernt ist, aber ich hatte keine Ahnung, wie weit Saratoga Springs von Savannah entfernt war. Natürlich hatte ich schon Landkarten gesehen, aber ich hatte nicht vor, mit ihrer Hilfe die beste Route
auszuarbeiten oder zu berechnen, wie viele Tage ich für die Reise brauchen würde. Ich schätzte, dass ich es in zwei bis drei Tagen bis nach Savannah zu meiner Tante schaffen könnte, sodass ich bis zur Rückkehr meines Vaters aus Baltimore wieder zu Hause sein könnte.
Jack Kerouac hat sich auf seine Reisen durch das Land nie großartig vorbereitet. Er machte sich höchstens ein paar
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