Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
Sean an Weihnachten. Er hat sich immer an Weihnachten gemeldet.«
Warum Weihnachten, warum nicht mein Geburtstag?
Weil er mich bestrafen will. Weil er mich satt hat.
Er ist wegen mir gegangen, und jetzt will er sogar auswandern, weil ihn hier nichts mehr hält. Sein Vater nicht, und ich schon gar nicht.
»Glaubst du, Sean ist in Schwierigkeiten?«
Pete zuckte die Schultern. »Wäre nicht das erste Mal.«
»Warum macht er das?«
»Ich habe mich oft gefragt, was wir falsch gemacht haben. Er hing sehr an seiner Mutter«, sagte Pete. »Sie ist früh gestorben. Genau heute, vor neunzehn Jahren. Es war eine schlimme Zeit, nicht nur für den Jungen. Wir waren seit Monaten im Streik, weil die Regierung die Zechen schließen wollte. Du wirst dich daran nicht mehr erinnern können. Du warst – wie alt?«
Ich rechnete nach. »Neun.« In Plymouth waren die Bergarbeiterstreiks kaum Thema gewesen. Jedenfalls nicht in meiner Schule. Nicht in meiner Familie. Vielleicht in den Nachrichten, aber mit neun interessiert man sich nicht für Nachrichten. Außerdem war damals mein Großvater gerade gestorben, was mich über Wochen und Monate in eine tiefe Verzweiflung gestürzt hatte. Ich versuchte zusammenzukratzen, was meine Allgemeinbildung hergab.
»Der Streik war nicht sehr populär, oder?«
Pete nickte. »Wir hatten kaum Rückhalt in der Bevölkerung. Viele Kumpels, besonders in England, hatten gegen den Streik gestimmt und sich damit gegen die Gewerkschaft gestellt.«
»Es sollte die Hälfte der Zechen in Großbritannien geschlossen werden.«
»Nein, jede dritte. Und wir wussten, dass wir betroffen waren. Wir befanden uns von Anfang an auf verlorenem Posten, aber das wollten wir damals nicht einsehen. Die Folge war, dass wir kein Geld mehr hatten. Sean fehlte oft in der Schule, weil er oft krank wurde, und er wurde oft krank, weil er nicht genug zu essen bekam. Er war mitten in der Pubertät und hasste mich dafür, dass ich mich am Streik beteiligte. Aber ich glaubte an die Sache! Ich glaubte, das Richtige zu tun. Meine Frau bekam im Dezember 1984 die Grippe, und sie war so schwach, dass sie nach nicht ganz drei Wochen starb. Ich hatte bis dahin nicht mal gewusst, dass man an der Grippe sterben kann. Als alter Mensch sicher, als kleines Kind, aber doch nicht als erwachsene Frau! Um Sean hatte ich mir jeden Tag mehr Sorgen gemacht als um sie. Sie sagte immer: Es geht mir gut, wir schaffen das …« Er hielt inne, rieb sich die Augen. »Ja, so war das. Sean beschimpfte mich als Feigling, weil ich kein Streikbrecher sein wollte, und machte mich für den Tod seiner Mutter verantwortlich. Und nicht nur er. Ich mache mir bis heute Vorwürfe.«
Was sollte ich sagen? Zu so etwas kann man nichts sagen. Nur sitzen und nicken und beruhigende Worte murmeln. Ich tat mein Bestes. Es half nichts. Seine Augen waren feucht und trüb, und er bat mich zu gehen.
Ich weiß gar nicht mehr, ob ich mich freuen soll, dass wir Seans Spur aufgenommen haben. Er will nicht gefunden werden. Warum soll ich weiter nach ihm suchen?
Ich wünschte, ich könnte aufhören, ihn zu lieben …
Aber ich vermisse ihn. Er ist der einzige Mensch, der mich geliebt hat, wie ich bin. Er konnte mir das Gefühl geben, zu Hause zu sein.
Vielleicht ist das alles Quatsch.
Ich kannte ihn ja nicht mal richtig.
Auszug aus Philippa Murrays Tagebuch
Donnerstag, 25. 12. 2003
Matt hat mir dieselbe Frage gestellt: »Warum suchst du nach ihm, wenn er doch eindeutig nicht gefunden werden will?«
»Aber warum meldet er sich dann nicht wenigstens bei seinem Vater?«
»Er weiß, dass ihr Kontakt habt.«
»Was ist denn so schlimm daran, wenn ich weiß, wo er ist?«
»Er braucht einfach Zeit für sich alleine und will nicht, dass ihm jemand reinredet. Er muss Entscheidungen treffen.« Es kam so schnell und klang so logisch, so klar …
»Da denkt offenbar noch jemand dran auszuwandern.«
Er hob die Schultern. »Zwei Kinder können ganz schön laut sein, manchmal.«
»Und dann noch Vater, und Sarah, und Mutters Migräne …«
Matt lachte nur. Ich weiß nicht, wie er es mit Sarah aushält. Sie passt nicht zu ihm. Er sagt immer, dass sie sich verändert hat, seit die Kinder da sind, und bestimmt wird sie irgendwann wieder so wie früher.
Egal, wie sie früher war: Sie hat meinen Bruder nicht verdient.
Wir rauchten heimlich eine Zigarette. Er darf zu Hause nicht rauchen.
Ich sagte: »Ich muss einfach wissen, was los ist. Wenn er mir ganz klar sagt, dass er mich verlassen
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