Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
will, kann ich damit besser leben als mit dieser Ungewissheit.«
Aus Glasgow kommen noch sehr viel mehr Hinweise. Ich gehe immer noch nicht ans Telefon, sondern höre weiter die Mailbox ab. Eine Frau sagte, Sean sei ein Heiratsschwindler, auf den sie reingefallen war, als er sich noch George nannte. Ein Mann behauptete, neben ihm im Kino gesessen zu haben, er wusste aber nicht mehr, wann und wo das gewesen war. Er war ein zweites Mal auf der Mailbox und sagte, es sei ihm wieder eingefallen, er hätte nicht neben ihm im Kino gesessen, er wäre auf der Leinwand gewesen und hätte in dem Film mitgespielt, aber er konnte sich an den Film nicht mehr erinnern. Eine Frau sagte, Sean sei die Reinkarnation ihres Sohnes, der vor zwanzig Jahren bei einem Autounfall gestorben war. Einer sagte, der Mann auf dem Foto hätte am Montag einen Zeitschriftenladen ausgeraubt. Viele Segenswünsche laufen auf. Menschen, die mir versichern, dass sie für mich und Sean beten. Hoffnungsbotschaften. Bibelzitate. Manche wollen meine Adresse, um mir Briefe zu schreiben oder Bücher zu schicken oder magische Glückssteine oder Engelsfiguren oder was nicht alles.
Ich schreibe mir alles genau auf, was die Leute sagen, notiere mir die Telefonnummern und leite die Informationen an Sergeant Reese und Constable Mahoney weiter. Sie bedanken sich immer höflich und sagen, sie würden sich melden, sobald es was Neues gibt, und ich soll mir eine Pause über die Feiertage gönnen.
Ich gehe ihnen auf die Nerven. Aber das ist nicht mein Problem.
Natürlich können sie nichts machen. Selbst wenn sie ihn irgendwo finden, können sie ihn nur bitten, sich bei mir oder seinem Vater zu melden. Mehr nicht. Es ist sein verdammtes Recht, einfach so zu verschwinden.
Sie versichern mir, dass sie intensiv ermittelt haben und keine Hinweise auf ein Verbrechen finden konnten. Sie kommen ständig mit Adressen von Beratungsstellen an und legen mir Statistiken vor, wie viele Erwachsene in Großbritannien im Jahr verschwinden. Das bringt mich nicht weiter. Ich will ihn nur noch einmal sehen, mit ihm sprechen, eine Antwort haben. Ich will wissen, dass er lebt und dass es ihm gut geht, und wenn er Zeit für sich braucht, dann soll er sie bekommen, aber diese Ungewissheit bringt mich um.
Ich werde im Januar nach New York fliegen. Wenn er vorhat, dort zu arbeiten, finde ich ihn.
Unser letztes Weihnachten war so schön. Damals lebte ich in London, wir verbrachten den größten Teil der Feiertage im Bett. Und wenn wir nicht im Bett waren, waren wir in irgendeinem Pub und feierten mit den Leuten, die gerade da waren. Oder wir zogen durch die Clubs und tanzten.
Ich mag kein familiäres Weihnachten. Es hat immer nur Streit gegeben, lange Gesichter, schlechte Laune, Tränen. Weihnachten ist für mich der Inbegriff von Zwang und Falschheit. Während des ersten Jahrs meiner Ausbildung in Hamburg war ich für die Feiertage nach Plymouth gekommen, aber danach nie wieder. Mir reichten die Weihnachtsfeiern mit den Kollegen, ob nun in Deutschland oder in den USA. In New York meldete ich mich freiwillig für den Konzertservice an den Feiertagen und verbrachte zwischen den Jahren mehr Zeit in der Carnegie Hall als in meiner Wohnung.
Und in diesem Jahr sitze ich nicht nur an meinem Geburtstag, sondern auch gleich wieder an Weihnachten in Plymouth. Wegen Sean.
Was ist nur passiert, dass ich mein Leben so auf einen Mann ausgerichtet habe? Wo ist meine Selbstständigkeit hin? Warum brauche ich mit einem Mal so dringend jemanden, der mit mir Weihnachten feiert, dass ich mich freiwillig zu meiner Familie begebe, statt allein zu Hause zu bleiben? Ich hätte genug zu tun. Das schöne alte Klavier, das ich restaurieren möchte, ist noch lange nicht fertig. Die Buchhaltung muss gemacht werden. Aber nein, ich bin geflohen. Zu Hause erinnert mich alles an Sean, und daran, dass er mich nicht mehr will.
Weihnachten bei meinem Bruder, Sarah und den Kinder zu sein, ist absurd. Immer noch besser, als bei den Eltern zu wohnen. Wir waren heute kurz bei ihnen, morgen kommen sie her. Dana war auch da, sie hatte für niemanden Geschenke gekauft, nicht mal für die Kinder. Simon hatte das übernommen, und Dana war in einem schrecklichen Zustand. Sie sprach so gut wie kein Wort, starrte nur vor sich hin, aß nichts, trank viel, so lange, bis Simon sie nach Hause brachte. Sie ließ sich widerstandslos von ihm mitnehmen. Wahrscheinlich hat sie mal wieder irgendwas falsch dosiert. Oder Simon hat sie für die
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