Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
geklärt war. Gleichzeitig wusste sie, dass dies Unsinn war. Das schlechte Gewissen blieb.
Dana hatte sie wegen Michael noch mehr beneidet als zuvor. Michael war genau die Art Mann, die sie sich für sich selbst gewünscht hatte. Nur, dass kein Mann wie Michael sich jemals auf eine Frau wie Dana einlassen würde. Sie trank zu viel, sie nahm ihre Tabletten entweder zu unregelmäßig oder zu oft, sie hatte sich nicht unter Kontrolle. Sie war keine Frau, mit der man wandern oder Ski fahren ging. Oder Musik machte. Dabei wünschte sie sich, genau so eine Frau zu sein. Mit Pippa konnte man wandern und Ski fahren und Musik machen. Mit Pippa …
Sie trat aus der Dusche, wickelte sich in ein Handtuch, wischte den beschlagenen Spiegel frei und sah hinein. Sie sah nur ein verschwommenes Gesicht. Es könnte ihres sein. Es könnte Pippas sein.
Seit Pippa laufen konnte, versuchte Dana, den Unterschied zu ihr so groß wie möglich zu halten. Fühlte sich trotzdem beschissen. Vielleicht sollte sie versuchen, so zu sein, wie Pippa war. Vielleicht sollte sie herausfinden, wer sie, Dana, wirklich war, und nicht nur darüber nachdenken, wer sie nicht war.
Dana ging zurück ins Schlafzimmer. Michael war verschwunden, was sie halb bedauernd, halb erleichtert zur Kenntnis nahm. Aus Pippas Kleiderschrank zog sie eine ausgebeulte dunkelblaue Cordhose und ein schwarzes Hemd. In der Garderobe standen derbe, ausgetretene Docs. Alles passte ihr. Sie hatten dieselbe Größe, sogar dieselbe Schuhgröße. Dana ging zurück ins Bad, trug nur ein wenig Wimperntusche auf, einen Hauch Puder, band die Haare in einem einfachen Pferdeschwanz zusammen und setzte sich in die Küche. Überlegte, was ihre Schwester wohl frühstückte, konnte sich nicht erinnern, aß, was da war, trank Tee, und ging runter in die Werkstatt.
Es war sieben. Es würden keine Kunden kommen, niemand würde sie sehen. Dana ging von einem Instrument zum nächsten, nahm die Abdeckungen runter, betrachtete sie, versuchte, Pippas Blick zu bekommen. An einem schwarzen, matt lackierten Steinway-Flügel blieb sie hängen. Dieser Flügel interessierte sie. Sie ging langsam um ihn herum, öffnete ihn, sah sich sein Innenleben an, nahm einen Klavierhocker, legte die Hände auf die Tasten. Als sie den ersten Ton, mehr aus Versehen, spielte, erschrak sie so sehr, dass sie aufsprang. Sie sah sich nach allen Seiten um, ob jemand sie gehört hatte. Es war niemand da. Sie setzte sich hin, legte wieder die Hände auf die Tasten, suchte das C. Zuerst spielte sie die C-Dur-Tonleiter mit der rechten Hand. Dann suchte sie mit der linken Hand eine Oktave tiefer das C, spielte dort die Tonleiter. Als Nächstes mit beiden Händen. Erst rauf, dann runter. Sie merkte, dass es ihr Spaß machte, und probierte der Reihe nach alle Tonleitern durch. Übte jede so lange, bis sie sie mit beiden Händen rauf und runter spielen konnte, ohne die Tasten suchen zu müssen. Erst, als es energisch an der Tür klopfte, hörte sie auf. Sie sah auf die Uhr: Zwei Stunden lang hatte sie Tonleitern gehämmert. Wahrscheinlich stand ein genervter Nachbar draußen und winselte um Gnade.
»Hallo, sind Sie da? Miss Murray? Hallo!« Eine Frauenstimme.
Dana schloss die Tür auf. Eine alte Frau stand vor ihr, dick eingepackt in einen dunkelroten Steppmantel. Schal, Mütze und Handschuhe waren aus weißer Wolle, die Füße steckten in riesigen schwarzen Schneestiefeln. Alles teure Marken, stellte Dana fest. Das faltige alte Gesicht schien unnatürlich gebräunt, die dünnen Lippen waren rot geschminkt. Die Frau starrte sie aus trüben grauen Augen an.
»Sie sind ja wieder da.« Ihr Akzent verriet eine teure schottische Privatschule. »Ich hab doch gewusst, dass die Zeitungen nur Unsinn schreiben. Hören Sie, Miss Murray, mein Spinett können Sie nächste Woche abholen. Ich habe mit meinem Neffen gesprochen. Nächste Woche passt ihm gut. Wie wäre es Montag? Hier, ich gebe Ihnen seine Visitenkarte, dann können Sie ihn wegen der Uhrzeit anrufen.« Sie zog einen Handschuh aus und tastete in ihrer Manteltasche nach der Karte, ohne beim Reden eine Pause zu machen. »Wenn er nächste Woche wieder zu Hause ist. Wissen Sie, er ist noch in Südafrika, da hat er natürlich viel besseres Wetter als wir. Ich habe ihm gesagt: Bleib ruhig da, hier hast du keinen Spaß. Aber er sagte: Nein, wenn wieder Flieger in Europa landen, bin ich ab Sonntag zu Hause. In Europa! Können Sie sich das vorstellen? Offenbar ist in ganz Europa der
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