Das zerbrochene Siegel - Roman
Dokument auf sich? Warum hatte Beatrix es zusammen mit den Münzen mitgenommen? Gehörte es ihr?
»Ihr hattet ein Dokument bei Euch, als Ulbert von Flonheim Euch am Wegesrand gefunden hat«, sagte Garsende. »Er hat es Euch entwendet. Wem gehörte dieses Schriftstück? Und was beinhaltete es?«
Beatrix schloss die Augen. In ihren eingefallen Zügen war keine Bewegung zu erkennen, und sie schwieg so lange, dass die Heilerin befürchtete, sie wäre in jene tiefe Bewusstlosigkeit gesunken, aus der sie womöglich nicht erwachen würde. Als sich ihre Lider endlich wieder hoben, flackerte ihr Blick.
»Ich wuchs in einem kleinen Dorf auf … in der Mark Turin«, begann sie mit leiser, brüchiger Stimme, »… gehörte zum Lehen der Grafen von Givenio … war ein junges Mädchen, als der alte Graf starb …«
Zunächst glaubte Garsende, Beatrix’ Geist sei erneut abgeglitten, in eine andere, glücklichere Zeit, und das, was sie so mühselig erzählte, würde nirgendwo hinführen. Doch nach und nach fügte sich aus den Bruchstücken eine Geschichte zusammen, die Sinn ergab.
Beatrix war als Tochter eines Bauern in einem Dorf aufgewachsen, das zu Füßen des Kastells der Grafen von Givenio lag. Als der alte Graf starb und ein Sohn, der einzige Nachfahre, zum Hof des Markgrafen reiste, um sich sein Lehen, sein Erbe, bestätigen zu lassen, war Beatrix noch ein
Kind gewesen. Doch als der junge Herr zurückkehrte, war sie zu einer jungen Frau erblüht. Und sie war schön. Ihr Vater stand in Verhandlungen zu ihrer Vermählung mit einem Nachbarn, als Beatrix und der junge Graf, Philipp, sich eines Tages begegneten. Ehe sie sich’s versah, war sie seine Geliebte. Zunächst hatten sie sich heimlich getroffen, doch dann wurden sie entdeckt. Der Vater tobte und verstieß seine Tochter, und Beatrix folgte Philipp auf dessen Burg.
»Ich war jung und wild …«, wisperte sie, »… dachte nicht an das Morgen …«
Angesichts der Umstände war ihr Glück von langer Dauer gewesen. Beatrix hatte bereits fünf Jahre auf der Burg gelebt, als Philipp plötzlich schwer erkrankte. Die Genesung schritt nur langsam voran, und sein Priester beschwor ihn, dem sündigen Leben mit der Kebse abzuschwören und nach Rom zu pilgern, um Buße zu tun. Nur das könne ihn retten. Philipp willigte ein. Trotz des Widerstandes seitens des Priesters bestand er darauf, dass Beatrix ihn begleitete, damit auch sie ihr Seelenheil wiedererlangen könnte.
»… Philipp war noch kaum genesen, als wir aufbrachen …«
Nach nur wenigen Tagesmärschen hatte die Pilgerfahrt vor den Toren des Klosters Sankt Raffael ihr Ende gefunden. Philipp war zusammengebrochen. Man schaffte ihn ins Hospiz des Klosters. Zunächst durfte Beatrix noch an seiner Bettstatt wachen, doch die Hörigen schwatzten. Als die Mönche erfuhren, dass sie seine Kebse war, gestattete man ihr zwar den Aufenthalt im Gästehaus, den Philipp ihr mit einer großzügigen Spende an das Kloster erkauft hatte, verweigerte ihr aber den Zugang zum Hospiz. Beatrix wartete. Neuigkeiten über den Zustand ihres Geliebten drangen nur spärlich zu ihr, und stets waren es die gleichen. Es ging ihm schlecht. Und Beatrix wartete weiter.
Einer der Mönche, ein noch junger Mann, nahm sich schließlich ihrer an. Wann immer er eine Gelegenheit fand,
suchte er ihre Nähe, heiterte sie mit Geschichten auf und schenkte ihr Trost. In ihren Gedanken bei Philipp, bemerkte sie nicht, dass er eine Neigung zu ihr gefasst hatte, die im Gegensatz zu seinem Gelübde stand.
»Er war schon als Kind ins Kloster verbracht worden«, wisperte Beatrix. »… arbeitete im Skriptorium von Sankt Raffael … kopierte all die schönen Schriften …«
So hatte sie Arnold von Clemante kennengelernt.
Unerwartet und plötzlich war der Abt gestorben, und der Prior des Klosters hatte seine Nachfolge angetreten. Arnold überwarf sich mit dem neuen Abt, der den Umgang des Mönchs mit der Kebse des Grafen von Givenio streng verurteilte. Als kurz darauf auch Philipp seinem langen Leiden erlag, beschloss Arnold, das Kloster zu verlassen. Und Beatrix sollte ihn begleiten.
»… bot mir die Ehe an.« Neue Tränen benetzten Beatrix’ Wangen. »Was hatte ich für eine Wahl?«
Allein, ohne Mittel und von ihrer Familie verstoßen, hatte Beatrix keine andere Möglichkeit gesehen, als auf Arnolds Angebot einzugehen. Philipp war gestorben, ohne Vorsorge für sie zu treffen, und obwohl auch Arnolds Familie keine Reichtümer besaß, war er überzeugt davon
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