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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Adlon gewiss für Gesprächsstoff sorgen würde. Zu Chiara h i elt er höfliche Distanz, g erade so, als hätte sie ihm einen Korb g e geben – was sie nicht getan hatte, denn dazu hatte er ihr bislang keinen Grund gegeben.
    Nicht weit entfernt saßen der Regisseur und der Produzent ihres neuen Fil m s, eine Abenteuergeschichte im alten Orient, und laut Ursi und anderen ein »perfekter zweiter Fil m «. Das Drehbuch war eines von m ehreren, die Jula vor ihrem Tod bereits a bgesegnet hatte – ein halbes Dutzend P r ojekte, d i e alle in den vergangen Wochen bei Chiara gelandet waren. Sie hatte nur das eine Angebot angenom m e n und alle anderen abgelehnt m it der pressewirksa m en Verlautbarung, sie wolle schließlich keine zweite Jula, sondern die erste Chiara Mondschein sein. Alle w ussten, dass es da m it nicht viel auf sich hatte  und dass m an sie vorerst natürlich wegen der Ähnlichkeit m it ihrer S c hwester b e s etzte, doch das spi e lte k eine Rolle. Auf die richtigen Schla g zeilen kom m e es an, hatte Masken ihr gepredigt, auch wenn es sich dabei nur um hübsch verpackte heiße Luft handelte.
    Noch war sie bereit, die s es Spiel m itzuspielen, und nie m and w a r erstaunter darüber a l s s i e s e l b s t . S i e h a t t e herausfinden wollen, was Jula getrieben, was ihre Veränderung bewirkt hatte. Doch das war längst nicht m ehr alles.
    Das Publikum verstummte, als Masken zur Bühne schritt, eine kurze Rede hielt, Chiaras Mut und Talent würdigte, zuletzt den K o m ponisten und Dirigenten vorstellte und dann m it sic h tlichem Genuss den Applaus entgegenna hm . Ihm folgte der P räsident der Gesell s chaft, die den Film ab kommender W oche verleihen würde.
    Nachdem beide auf i h re Plä t ze zurückgekehrt waren, wurde das Licht gelöscht, das Publikum verstummte, und der Film begann. Chiara h a tte ihn bereits zwei m al gesehen, aber die Brillanz von Maskens V i sion, die Eindringlichkeit von Kubins Dekors und nicht zuletzt ihr Gesicht auf der Leinwand über r aschten sie erne u t . Sie w a r stolz, verwirrt und im Grunde noch gar nicht in der Lage, die ganze Si tuation zu erfassen.
    Herrgott, sie spielte ei n e Hauptrolle in einem Film. Noch vor drei Monaten, bei ihrer Ankunft in Berlin, hätte sie jedem ins Gesic h t gel ac ht, der ihr das vorausgesagt hätte.
    Aber jetzt las sie dort oben ihren Na m en. Staunte. W ar wie betäubt.
    Und hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie das alles ge m acht hatte. W as hatte sie getan? W i e hatte sie es geta n ? W ar das wirklich sie selbst?
    Sie hatte geglaubt, sie w ü rde in die s e ne u e Rolle  hineinwachsen – die im Leben, nicht im Fi l m –, würde sich all m ählich an alles gewöhnen, m it der gleichen Ruhe, m it der sie die ersten Drehta g e bewältigt hatte. Aber jet z t spürte sie nichts davon. Sie war aufgeregt, rutschte in ihrem Kinosessel heru m , hatte tausend Gedanken im Kopf und war innerlich so aus dem Häuschen, dass sie das Gefühl hatte, aufspringen und Gri m assen schneiden zu müssen. Sie spürte, dass Torben seine Hand über ihre schob; sie legte ihre Finger um seine, drückte fester zu und sah im Dunkeln, dass er läche l te. Die Berührung hatte für sie nic h ts Inti m es, nichts Ver f ä n glich e s. Sie hätte in diesem Mo m ent sogar Masken u m a r m t , hätte sie die Gelegenheit dazu gehabt.
    Später, d ra u ßen im Trubel der Gespräche, im Chaos d e r Hochrufe, der Begeisterung, der zahllosen Gratulationen und guten Wünsche, sah sie Henriette Hegenbarth. Die Kolu m nistin stand e i n wenig abseits, hielt ein Glas Ch a m pagner in der Hand und beobachtete sie. Ihr Gesicht war ernst, verschlossen. Keine Spur von Euphorie, nicht m al ein Lächeln.
    Chiara überlegte, ob sie zu ihr hinübergehen sollte, aber da k a m schon wieder je m and anderes, um ihre Hand zu schütteln, m it ihr für eine Fotografie zu posieren oder einfach nur freundlich zu sein.
    Irgendwann fiel ihr Henriette wieder ein, und sie schaute sich nach ihr u m .
    Henriette w ar fort. Ihr Glas stand halbvoll neben einer  Blu m en a m pel. Chiara konnte sie nirgendwo entdecken.
    Wer weiß, v i elleic h t macht er noch eine echte Diva aus  Ihnen.
    Morgen, wenn sie wieder sie selbst war – nicht m ehr Chiara Mondschein, F i lmstar –, w ü rde s i e d i es alles m it Distanz betrachten und sich über sich selbst wundern. Als  unbeschriebenes Blatt war sie nach Berlin gekommen. Hätte m an sie nach ihrem Charakter gefragt, nach ihren Talenten, ihren

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