Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
Vom Netzwerk:
seinen Schild hinweg – der Vorteil ist auf deiner Seite.«
    Sie nickten und murmelten zustimmend.
    »Dann werden wir das jetzt üben. Es ist gefährlich, darum nehmen wir stumpfe Waffen. Roger, geh und hol sie«, wies er den jüngsten Warenne an. »Leif, du holst ein Pferd. Beeilt euch, los.«
    Was in der Theorie so einfach und logisch geklungen hatte, erwies sich in der Praxis als ausgesprochen schwierig. Etienne ließ je einen seiner Schüler zu Fuß gegen einen berittenen antreten, und der Fußsoldat war nicht mit einem der stumpfen Übungsschwerter bewaffnet, sondern mit einem Stock, dessen Ende in zermahlene Kreide getaucht wurde. Damit hieß Etienne ihn versuchen, das Pferd an einer verwundbaren Stelle zu berühren, und bald war der Hals des kräftigen braunen Wallachs grau von Kreidestaub.
    Etienne und Cædmon lachten über die Ungeschicklichkeit der Knappen, die ihre Anstrengungen daraufhin verdoppelten.
    »Leif und Eadwig, versucht ihr es noch einmal«, sagte Etienne. »Eadwig, du nimmst das Pferd. Los, sitz auf, beweg dich.«
    Eadwig schwang sich in den Sattel und trabte ans linke Ende der Bahn, während Leif den Kreidestock aufnahm und an die andere Stirnseite trat. Der Sandplatz war vielleicht sechzig Schritt lang und etwa halb so breit – nicht wirklich groß genug für einen Angriff im gestreckten Galopp –, aber der Wallach war ein schnelles Pferd und Eadwig ein guter Reiter. Aus dem Stand galoppierte er an und hielt geradewegs auf Leif zu, der ihm unbewegt entgegensah. Der Baum, an dem Cædmon lehnte, stand an der Längsseite auf Leifs Hälfte, und so konnte er fast den ganzen Weg seines Bruders von vorne verfolgen. Mit sorgsam verborgenem Stolz bewunderte er Eadwigs tadellosen Sitz und seine mühelose Herrschaft über das Pferd, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Dann geschahen mehrere Dinge fast gleichzeitig. Cædmon spürte, wie die Härchen in seinem Nacken sich warnend aufrichteten, hob den Kopf und stieß sich von seinem Baumstamm ab. Im selben Moment hörte er einen entsetzten Schrei, und er wußte, es war Aliesas Stimme. Etienne, der hinter Leif an der Stirnseite des Platzes stand, brüllte: »Eadwig, halt!« und rannte los.
    Ein kleiner Junge torkelte auf dicken Beinchen wenige Schritte von Cædmon entfernt in die Bahn und lachte glucksend vor sich hin. Man konnte nur raten, was sich in seiner Phantasiewelt abspielte, das ihn so erheiterte, jedenfalls nahm es ihn vollkommen in Anspruch, und er hörte weder die warnenden Stimmen noch das Schnauben und den Hufschlag des gewaltigen Schlachtrosses, das genau auf ihn zuhielt. Cædmon sah auf einen Blick, daß Eadwig weder rechtzeitig anhalten noch ausweichen konnte und Etienne viel zu weit weg war. Er machte einen Satz, packte den kleinen Abenteurer von hinten, warf sich mit ihm zu Boden und schützte ihn mit seinem Körper. Dann legte er die Arme um den Kopf und wartete auf Huftritte.
    Eadwig war zu entsetzt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Instinktiv signalisierte er dem Pferd, seine Schritte zu verkürzen, und lehnte sich leicht vor, um ihm den Sprung zu erleichtern. Der langbeinige Braune machte einen kaum wahrnehmbaren Satz über das niedrige Hindernis hinweg, ohne Cædmon auch nur ein Haar zu krümmen.
    Stimmengewirr, dumpfe Schritte im Sand, das mörderische Brennenauf der Brust. Cædmon eruierte seine Sinneswahrnehmungen, um die Orientierung wiederzufinden, richtete sich auf, und als der kleine Körper unter ihm nicht mehr auf seine Brust drückte, verebbte das Brennen ein wenig.
    »Aliesa, alles in Ordnung?« fragte Etienne atemlos.
    Sie antwortete nicht. Vielleicht nickte sie oder schüttelte den Kopf. Im nächsten Moment kniete sie neben Cædmon, fuhr dem kleinen Jungen über den Kopf, nahm ihn behutsam bei den Armen und richtete ihn auf. »Oh, Henry. Du gottverfluchter kleiner Satansbraten …«
    Ihre Stimme klang so sanft und liebevoll, daß niemand ihr lästerliches, gänzlich untypisches Fluchen so recht wahrzunehmen schien. Sie preßte den kleinen Ausreißer an sich, kniff die Augen zu und rang um Fassung, aber trotzdem rannen Tränen unter ihren dichten, langen Wimpern hervor. Als sie die Augen wieder aufschlug, trafen sich ihre Blicke. Cædmon lächelte. »Es ist nichts passiert, Madame. Seid beruhigt.«
    Erst jetzt schien sie ihn wirklich zur Kenntnis zu nehmen. »Cædmon … Ich wußte nicht, daß du … Ihr zurück seid.«
    Der Schreck hatte ihr zugesetzt. Sie war unnatürlich bleich; ihre Haut schien

Weitere Kostenlose Bücher