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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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ihm völlig klar, daß es im Grunde keinen Sinn hatte. Er wußte ja nicht einmal, in welcher Richtung die normannische Küste lag oder wie weit es bis dorthin sein mochte. Außerdem zerrte die starke Strömung an ihm und schien ihn jedesmal zurückzuwerfen, wenn er eine Elle weit gekommen war. Er konnte überhaupt nichts sehen. Zweimal versuchte er, Bruder Oswalds Namen zu rufen, aber beide Male brachte es ihm nichts weiter ein, als daß ein Schwall bitteres Salzwasser in seinen geöffneten Mund strömte. Die Schwärze um ihn herum und die bodenlose Tiefe unter ihm erfüllten ihn mit Grauen, und er schwamm in Panik, in dem vollkommen sinnlosen Versuch, dem Grauen zu entkommen.
    Seine Kräfte schwanden schnell. Die vollgesogene Kleidung wurde bleischwer und wollte ihn in die Tiefe ziehen. Seine Schwimmzüge wurden kleiner und schwächer, er kam überhaupt nicht mehr von der Stelle. Eine der unbarmherzigen Wellen schlug über ihm zusammen, traf seinen Kopf wie eine wütend geschwungene Keule, und er ging unter. Mit weit aufgerissenen Augen sank er, wurde von der Strömung wieder emporgerissen, holte keuchend Atem und schrie vor Angst und Wut. Dann kam die nächste Welle herangebraust, legte sich mit ungeheuer kräftigen Pranken auf seine Schultern und schob ihn vorwärts, und Cædmon pflügte mit dem Gesicht durch Sand.
    Er öffnete den Mund zu einem Laut der Verwunderung, doch sofort füllte sein Mund sich mit winzigen, klebrigen Sandkörnern. Er spuckteund keuchte, spürte weichen Boden unter Händen und Knien und krabbelte in panischer Hast weiter an Land. Dann lag er still, zitternd vor Kälte und Erschöpfung, fuhr mit den Händen durch die nasse Erde und dankte Gott.
    »Wenn du dich rührst, bist du tot«, raunte eine heisere Stimme über ihm auf normannisch.
    Cædmon fuhr zusammen, blieb aber unbewegt mit dem Gesicht im Sand liegen und antwortete: »Viel ist ohnehin nicht von mir übrig. Soll ich liegenbleiben, bis die Flut kommt und sich den Rest von mir holt?« Er hörte ein leises Keuchen, das vielleicht ein Lachen war. »Steh auf. Langsam. Hände auf den Rücken.«
    »Ich glaube nicht, daß ich das kann.« Seine Arme und Beine bebten vor Schwäche, es war, als wären all seine Knochen zu Wasser geworden. »Bist du Engländer? Wir haben schon ein paar aus dem Wasser gefischt. Aber keiner verstand unsere Sprache.«
    »Ja, ich bin Engländer. War ein junger Mönch unter denen, die ihr retten konntet?«
    »Wir haben niemanden gerettet, Bürschchen. Wir haben sie gefangengenommen. Dieses Land gehört Comte Guy de Ponthieu.«
    Cædmon hob den Kopf aus dem Sand. »Ich bitte vielmals um Vergebung, hier ungebeten angespült worden zu sein.«
    Zwei große Hände umfaßten seine Oberarme und zerrten ihn in die Höhe. »Komm auf die Füße. Ich will hier draußen nicht die Nacht verbringen.«
    Der Soldat war ein hagerer, eher kleiner Mann in fadenscheinigen Kleidern, aber das knielange Kettenhemd und das Schwert an seiner linken Seite schienen von erstklassiger Qualität. Eine Streitaxt trug er nicht. Auch keinen Helm, und da er der erste leibhaftige Normanne war, den Cædmon zu Gesicht bekam, fiel es dem Jungen nicht leicht, seine Verblüffung zu verbergen. Wäre er nicht so vollkommen erschöpft gewesen, hätte er sich das Lachen wohl kaum verkneifen können: Der Mann vor ihm war vollkommen bartlos, und damit nicht genug, war sein leicht ergrautes, dunkles Haar auf höchst seltsame Weise geschoren. Es hing ihm in kurzen Fransen über die Stirn, zog sich in einer leichten Rundung um den Kopf, die die Ohrläppchen freiließ, und war hinten gerade abgeschnitten, so kurz, daß sein Nacken zu sehen war.
    »Was starrst du mich so an, he?«
    Cædmon senkte eilig den Blick.
    »Komm.« Der Mann legte ihm die Hand auf die Schulter und führte ihn eine flache Düne hinauf. Cædmon torkelte humpelnd vor ihm her.
    Auch hier an Land herrschte schweres Wetter. Der Wind fegte vom Kanal heran und ließ ihnen den dichten Regen waagerecht in den Rücken prasseln. Doch war es hier nicht so finster wie draußen auf See. Im grauen Tageslicht konnte Cædmon die Wolken ausmachen, die über den Himmel jagten, das struppige Gras auf dem Kamm der Düne, das Grün der Wiesen dahinter, und er dachte verwundert: Es sieht aus wie England.
    Eine Schar von vielleicht einem Dutzend Reitern wartete jenseits der Düne auf einem schlammigen Pfad, etwa ebenso viele Gefangene standen triefend und mit hängenden Schultern zwischen ihnen. Nur Harold

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