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Das zweite Königreich

Das zweite Königreich

Titel: Das zweite Königreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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Godwinson hielt sich aufrecht und sah den Soldaten herausfordernd in die Augen. Cædmon ließ den Blick über die jämmerliche kleine Schar gleiten. Bruder Oswald war nicht darunter.
    Sein Bewacher stieß ihn unsanft zwischen die Schulterblätter, und Cædmon stolperte in die Mitte der kleinen Gruppe.
    »Gott sei Dank, Junge«, murmelte Harold.
    »Wo sind die anderen?« fragte Cædmon verstört.
    Harold schüttelte langsam den Kopf. »Nur wir. Ich weiß nicht, was aus den übrigen vier Schiffen geworden ist. Ich bete, daß sie rechtzeitig umkehren konnten.«
    Der Zug setzte sich in Gang. Der Pfad führte zwischen üppigen Wiesen und frisch bestellten Feldern mit fetter, brauner Erde hindurch, mündete in eine Straße, der sie zwei oder drei Stunden in südlicher Richtung folgten, bis sie schließlich ein großes Dorf erreichten. An seinem Westrand stand auf einem flachen Hügel eine steinerne Halle.
    Die Soldaten trieben ihre Gefangenen durch das Tor eines gewaltigen Palisadenzauns. Im Innenhof hielten sie an.
    Der Mann, der Cædmon am Strand aufgelesen hatte, sah sie der Reihe nach an. Dann fragte er Harold: »Bist du der Anführer?«
    Harold rätselte einen Moment mit gerunzelter Stirn, erkannte dann den Sinn der Worte und nickte.
    »Wie ist dein Name?«
    »Harold Godwinson. Ich bin im Auftrage König Edwards unterwegs zu Herzog William. Besser, ihr laßt mich ziehen.«
    Der Normanne schüttelte den Kopf. »Was sagst du?«
    Harold nickte Cædmon zu, und der Junge übersetzte getreulich, was er gesagt hatte.
    Die Normannen wechselten ratlose Blicke. Dann saß der Wortführer ab, trat zu Harold und nahm ihm die Fesseln ab. »Komm mit. Du auch, Junge«, wies er Cædmon an und befahl seinen Kameraden: »Sperrt die anderen ein.«
     
    Cædmon hatte nie zuvor eine Halle aus Stein gesehen. Selbst Harolds Häuser, die so viel größer und prächtiger waren als das seiner Familie in Helmsby, bestanden aus verbretterten Balkenkonstruktionen. Guy de Ponthieus Burg hingegen wirkte, als hätten Riesen große graue Felsquader aufgetürmt. Über eine Zugbrücke und durch ein breites, bewachtes Eingangstor gelangten sie in eine Vorhalle, hinter der eine Küche zu liegen schien; jedenfalls drangen Rauch und ein köstlicher Geruch nach gebratenem Speck heraus. Cædmons Magen grummelte vernehmlich. Rechts führte eine steinerne Treppe zur eigentlichen Halle hinauf. Dorthin brachte sie der Soldat.
    Entlang der Stirnseite des großen Saales stand ein Tisch auf einem flachen Podest, dahinter brannte ein Feuer in einem mannshohen Kamin. Auch die Längswände waren von Tischen gesäumt, an denen Männer und Frauen in kleinen Gruppen zusammensaßen und aßen. »Diese Normannen halten große Stücke auf Tischordnung«, raunte Harold Cædmon zu. »Nicht nur an der hohen Tafel, wie bei uns. Auch an den Seitentischen herrscht strikte Rangordnung. Wer unterhalb der Salzfässer sitzt, ist von keinerlei Bedeutung.«
    Cædmon nickte. Das hatte seine Mutter ihm auch einmal erklärt.
    Der Herr der Halle war ein etwas beleibter Mann um die Vierzig, dessen mürrisches Hängebackengesicht kränklich bleich wirkte. Er sah ihnen mit gerunzelter Stirn entgegen. An seiner Seite saß eine ebenso beleibte, aber sehr elegante Dame. Haube und Kotte waren aus safrangelbem Leinen, das ärmellose Überkleid aus einem schimmernden, dunkelgrünen Stoff, den Cædmon nicht kannte.
    »Der Sturm hat ein Schiff auf die Sandbank getrieben«, meldete der Soldat. »Diesen hier und ein Dutzend weitere haben wir aufgegriffen. Er sagt, sein Name sei Harold Godwinson.«
    Auf Guy de Ponthieus Sauertopfgesicht erschien langsam ein zufriedenes Lächeln. »Ach wirklich?« Er wandte sich an Harold. » Der Godwinson, von dem es heißt, er regiert England und seinen greisen König?«Harold hob den Kopf noch ein wenig höher. Sein Blick glitt kurz in Cædmons Richtung. Offenbar hatte er nicht genau verstanden, was Guy gesagt hatte, und wußte nicht, ob man ihn beleidigt hatte oder nicht.
    Cædmon räusperte sich und sagte mit gesenktem Kopf. »Er ist der Mann, den Ihr meint, Monseigneur. «
    Guy sah kurz mit halb geschlossenen Lidern auf ihn hinab, beachtete ihn aber nicht weiter. An Harold gewandt fragte er: »Was führt Euch ins Ponthieu, Mylord?«
    Harold drehte sich zu Cædmon um. »Sag ihm, König Edward hat mich mit wichtigen Nachrichten zu Herzog William in die Normandie gesandt. Sag ihm, ich bedaure, an seiner Küste gelandet zu sein, aber es war ein Unfall. Sag ihm, wir

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