Das zweite Königreich
hast dir Zeit gelassen … Söhnchen«, flüsterte Jehan heiser. Es war die kraftlose Stimme eines Sterbenden, aber immer noch war sie voller Hohn, voll diebisch vergnügter Boshaftigkeit. Oder zumindest kam es Cædmon so vor.
Zögernd trat er näher. »Ja. Ich wollte Euch nicht sehen.«
Jehan keuchte erstickt. Mit einiger Verspätung erkannte Cædmon, daß es ein Lachen war. Der Atem des Kranken ging mühsam und pfeifend. »Hast du immer noch Angst vor mir?«
Cædmon sah kopfschüttelnd auf ihn hinab. »Ich glaube nicht. Es gibt nicht mehr besonders viele Dinge, die mir angst machen.«
»Nein. So ergeht es all denen, deren schlimmste Befürchtungen sich schon erfüllt haben. Bild dir nur nichts darauf ein.«
»Was wollt Ihr von mir?«
Jehan schloß für einen Moment die Augen, und sofort wirkte er zerbrechlich, um vieles kränker, ganz und gar harmlos. Bis er sie wieder aufschlug. »Ich will dir ein Geheimnis anvertrauen, das nicht mit mirsterben darf. Ich denke, du bist der Richtige, um es zu hüten. Es ist das einzige … was Robert im Zaume hält …« Er keuchte.
Cædmon sah ihn gebannt an.
»Jetzt bist du neugierig, was?«
»Ja.«
»Gib mir zu trinken.«
Cædmon sah sich suchend um. Auf dem Tisch standen ein Krug und ein Becher. Er füllte ihn, trug ihn zum Bett und setzte ihn an die trockenen, blutleeren Lippen. Mehr als die Hälfte ging daneben und rann Jehans mageren Hals hinab, aber sein Atem wurde ein wenig leichter. »Sag, Cædmon, liebst du deinen König?«
»Nein. Aber ich habe ihm einen Eid geschworen. Ihn und die Seinen und sein Reich dies- und jenseits des Kanals mit all meinen Kräften und notfalls meinem Leben gegen alle Feinde zu verteidigen und so weiter. Und das tue ich. Wenn er mich läßt. Gut genug für Euer Geheimnis?« »Ich denke schon. Komm näher …«
Cædmon beugte sich weiter über ihn, als die Tür sich quietschend öffnete und der König eintrat. Cædmon richtete sich auf und verneigte sich knapp. »Sire.«
William kam näher, ein schwaches Lächeln lag auf seinen Lippen. »Es ist gut von Euch, daß Ihr Euren alten Lehrer nicht vergessen habt, Thane.«
Cædmon unterdrückte mit Mühe eine ironische Grimasse und sagte lieber nichts von seinen unvergeßlichen Erinnerungen an Jehan de Bellême.
Der König setzte sich auf den Schemel neben dem Bett, der unter seinem Gewicht unheilvoll knarrte, und nahm Jehans uralte Hand in eine seiner schwieligen Pranken. »Wie geht es Euch heute, mein Freund?« Jehan lächelte, und den Ausdruck, mit dem er zu William aufsah, hatte Cædmon noch niemals in den Augen des alten Veteranen gesehen. Es war ein Blick tiefster Verehrung und Ergebenheit, nicht unähnlich dem Blick, mit dem Cædmons bevorzugter Jagdhund zu seinem Herrn aufsah, wenn der einen Knochen in der Hand hielt.
Leicht angewidert wandte Cædmon sich ab. »Ich werde Euch allein lassen.«
William nickte, ohne aufzusehen.
»Komm wieder«, flüsterte der Kranke eindringlich.
»Natürlich, Jehan.«
Nachdenklich ging Cædmon in den Innenhof hinunter. Auf dem Sandplatz trugen sein Bruder Eadwig und einer von Roberts Rittern einen Schaukampf aus, den gut zwei Dutzend Zuschauer gespannt verfolgten. Wulfnoth stand ein wenig abseits, aber auch er sah mit Interesse zu.
Cædmon gesellte sich zu ihm. »Eine englische Streitaxt gegen ein normannisches Schwert? Wird hier die Schlacht von Hastings wiederholt?« erkundigte er sich und fuhr fast unmerklich zusammen, als Eadwig mit einem geschickten Sprung einem tückischen Schwerthieb entging.
Wulfnoth nickte. »In gewisser Weise. Roberts und Rufus’ Ritter debattierten über die jeweiligen Vorzüge englischer und normannischer Kampftechniken. Die jungen Normannen sind diesbezüglich ganz besonders von ihrer Überlegenheit überzeugt.«
»Leider zu Recht.«
»Das wissen du und ich. Doch dein Bruder hat diesem Jungen hier, der übrigens Roger Montgomerys Sohn ist, vorgeschlagen, die Unterschiede in der Praxis zu erproben. Es sollte eine rein technische Demonstration werden. Wer den anderen verletzt, muß ihn heute abend in der Stadt freihalten. Aber es wird mit jeder Minute hitziger.«
Der Kampf schien tatsächlich mit jedem Streich schneller und heftiger zu werden. Der junge Robert Montgomery kämpfte hart und schnell und war mit seinem mandelförmigen Schild wenigstens etwas geschützt. Eadwig hingegen hielt seine schwere, langstielige Axt in beiden Fäusten und war somit allein auf seine Geschicklichkeit angewiesen.
»Gott, der
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