Das zweite Königreich
Odo gesprochen, als er hier war. Du hast ein schlimmes Jahr hinter dir.«
Cædmon sah nicht auf. »Ja.«
Es war eine Weile still, während Wulfnoth geduldig wartete. Cædmon bohrte die Spitze seines Messers in das Käseeckchen, das vor ihm auf dem Tisch lag, und zerschnitt es in zwei Hälften. Die Hälften teilte er wieder. Als die Krümel so klein waren, daß sie sich nicht weiter zerschneiden ließen, nahm er sich ein Stück Brotrinde vor. Schließlich fing er an zu erzählen.
Als er geendet hatte, drehte Wulfnoth seinen Becher zwischen den Händen und blickte hinein, als vermute er an dessen Grund die Antworten auf alle Rätsel der Welt. »Und was jetzt?« fragte er endlich. Cædmon zuckte mit den Schultern. »Im Grunde hat sich nicht viel geändert. William verfügt über mich, wie er es immer schon getan hat. Nur hat er jetzt gewiß nicht mehr die Absicht, mich zum Sheriff von Norfolk zu ernennen, und darüber bin ich froh. Ich war nie besonders wild darauf, in seinem Namen die ewig steigenden Steuern einzutreiben oder kleine und große Übeltäter zu verstümmeln. Und er ist noch ein bißchen schroffer als früher, aber das erschüttert mich auch nicht. Ich weiß nicht, wozu er mich hierhergeholt hat, aber offen gestanden ist es mir auch egal. Offen gestanden sind mir die meisten Dinge ziemlich egal geworden. Mein Leben ist ein Trümmerhaufen. Weißt du, letztes Jahr um diese Zeit habe ich geglaubt, ich hätte alles verloren, was von Bedeutung war. Erst Richard, dann Aliesa und Etienne, meine Freiheit und mein Ansehen. Inzwischen weiß ich, daß das nicht stimmt. Ich habe meine Geschwister, die mir alle auf ihre Weise geholfen haben. Sogar Guthric ist zu mir nach Dover gekommen, um mir Mut zuzusprechen, obwohl er mein Verhältnis mit Aliesa mißbilligte und obwohl Lanfranc es nicht gern sah. Ich habe zwei Söhne. Ich habe trotz allem noch ein paar Freunde. Ich habe sogar noch mein Land. Nein, ich kann mich im Grunde wirklich nicht beklagen …«
»… aber ohne sie ist alles einen Dreck wert«, beendete Wulfnoth den Satz für ihn.
Cædmon hob leicht die Schultern und nickte mit einem verschämten, kleinen Lächeln, stand auf, trat ans Fenster und sah in den Hof hinunter. »Wo ist Jehan überhaupt? Ich habe ihn noch nicht gesehen.«
»Krank«, antwortete Wulfnoth knapp.
Cædmon wandte sich zu ihm um.
»Der Schlag hat ihn getroffen«, erklärte sein Freund. »Er ist gelähmt und kann kaum noch sprechen. Ich besuche ihn jeden Tag. Er wartet darauf, daß er stirbt. Und wie immer hat er wenig Geduld.«
Das Leben in Rouen war durchaus nicht unangenehm. Cædmon war in gewisser Weise froh, aus England fort zu sein. Auch wenn vermutlich jeder am Hof in Rouen wußte, was er verbrochen hatte, waren die meisten hier doch Fremde für ihn, und ihm war gleich, was sie dachten oder hinter seinem Rücken tuschelten. Er verbrachte seine Zeit mitRufus, Eadwig und Henry oder mit Wulfnoth und wartete ohne große Neugier darauf, daß der König ihn wissen ließ, wozu er ihn hergeholt hatte.
»Darf ich mich einen Moment zu Euch setzen, Thane?« erkundigte sich eine junge Stimme höflich auf englisch.
Cædmon sah auf und biß sich auf die Zunge, um nicht zu antworten: Nein, lieber nicht. Vor ihm stand der letzte angelsächsische Prinz, der zu groß und athletisch geworden war, um ihn noch den »kleinen« Edgar zu nennen, aber mit Anfang Zwanzig immer noch eine kindlich anmutende Unbekümmertheit ausstrahlte, eine gänzlich irreführende Unschuld, als ob er kein Wässerchen trüben könnte. Cædmon verbarg seinen Argwohn hinter einem höflichen Lächeln. »Es wäre mir eine Ehre, Mylord. Ich muß Euch allerdings warnen. Ich stehe derzeit nicht besonders hoch in Williams Gunst, und diese Krankheit kann ausgesprochen ansteckend sein. Unter Umständen reicht es schon, sich zu mir zu setzen, um sie sich einzufangen.«
Edgar Ætheling ließ sich unerschrocken neben ihm nieder. »Die Prinzen Rufus und Henry und ihre Ritter lassen sich davon nicht abschrecken«, bemerkte er. »Für einen Mann in Ungnade seid Ihr bemerkenswert selten allein.«
»Rufus und Henry und ihre Ritter sind aus Gründen, die zu erklären viel zu lange dauern würde, gegen meine Krankheit gefeit. Aber Ihr?« Der Prinz winkte ab. »Um Euch die Wahrheit zu sagen, ich pfeife auf Williams Gunst, Thane.«
»Tatsächlich?«
»Hm. Ich besitze Roberts. Und glaubt mir, die ist hier in der Normandie hundertmal mehr wert.«
Cædmon sah ihn stirnrunzelnd an.
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