Das zweite Königreich
Verschwommen. Ich erinnere mich besser an ihre Stimmen.«
»Erzähl mir von ihnen. Du sprichst so selten davon.«
Aber Erik schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Du mußt dir immer alles vom Herzen reden. Aber ich nicht. Ich … bin anders.«
»Ja.« Sie rümpfte die Nase. »Ein verfluchter Däne, was soll man erwarten. Es heißt ›von der Seele reden‹.«
Erik lächelte. »Wie auch immer.«
Er wünschte sich oft, er könnte in seiner Sprache mit ihr reden. Auch wenn er die ihre mit jedem Tag besser beherrschte, erschien sie ihm doch manchmal wie ein kaum überwindliches Hindernis. Und wie so oft, wenn er darüber nachsann, dachte er unweigerlich an Cædmon. Obwohl er nicht wollte. Aber er kam einfach nicht umhin, an ihn zu denken, denn sie hatten in ihrer derzeitigen Situation so vieles gemeinsam. Erik war seit seinem dreizehnten Lebensjahr zur See gefahren, erst mit seinem Vater, später mit dessen Bruder. Er war im Slavenland gewesen, sogar in Sizilien, öfter aber in Irland oder Wales, um Handel zu treiben oder die Küsten zu überfallen, je nachdem, was die politische Lage gebot. Er hatte viele schreckliche Dinge gesehen, hatte selbst Männer im Kampf getötet oder verstümmelt, aber er hatte selten eine Tat so bereut wie den heimtückischen Schuß auf Hylds Bruder. Und wenn es schon sein mußte, warum, warum hatte er dann nicht wenigstens Dunstan treffen können?
Nachdem seine vier Gefährten, die wie er das Fiasko von Metcombe überlebt hatten, zur Arbeit in das verwüstete Dorf geschickt worden waren und er als einziger in Helmsby zurückblieb, hatte er manchmal geglaubt, er müsse das einsamste Geschöpf auf der Welt sein. Niemand, der seine Sprache verstand. Niemand, der ein freundliches Wort für ihn hatte. Alle hielten ihn für ein Ungeheuer und mieden ihn, alle außer Dunstan, natürlich, der trotz des ausdrücklichen Verbots seines Vaters keine Gelegenheit verstreichen ließ, ihn heimzusuchen. Einmal war Erik entkommen. Zu Fuß und ohne klare Vorstellung, wohin er sich wenden sollte, war er in den Wald geflüchtet, gerannt, die ganze Zeit in Panik. Er hatte von vornherein keine wirkliche Chance gehabt, und eigentlich wußte er das auch. Sie hatten ihn eingeholt und zurückgebracht, geprügelt und in Ketten gelegt. Ælfric hatte ihm angedroht, ihm einen Fuß abzuhacken, sollte er je wieder versuchen zu fliehen. Und Erik war überzeugt, daß er all das nur hatte aushalten können, weil er es verdiente, weil es eine Art Sühne für Cædmons lahmes Bein war. In den endlosen finsteren Stunden, die er eingesperrt war, hatte er immerzu an ihn denken müssen, an diesen angelsächsischen Jungen, der jetzt genauso unter Fremden gefangen war wie er selbst, sich wahrscheinlich genauso nach Hause sehnte, nach Menschen und Dingen, die ihm vertraut waren. Er fühlte sich ihm verbunden.
Es schien, als habe Ælfrics fürchterliche Drohung ihren Zweck erfüllt. Erik unternahm keinen zweiten Fluchtversuch, wurde gar so zahm, daß man ihm eine Schafherde anvertraute, als sich herausstellte, welch glückliche Hand er mit den Tieren, vor allem aber mit dem Hund hatte. Erik war es gleich, daß sie glaubten, sie hätten ihn kleingekriegt. Sie konnten denken, was sie wollten. Er war wegen Hyld geblieben. Dabei war das nun wirklich das letzte gewesen, was er gewollt hatte, das letzte, was er gebrauchen konnte. Anfangs hatte er sich eingeredet, es werde schon wieder vorbeigehen, auf ein paar Wochen kam es schließlich nicht an, warum sollte er sich seine bittere Gefangenschaft nicht ein wenig versüßen mit den Freuden, die sie ihm so verblüffend bereitwillig und rückhaltlos schenkte. Aber irgendwie saß es wohl doch tiefer, als er angenommen hatte. Er konnte sich nicht entschließen, sie zurückzulassen, um dann endgültig aus Helmsby zu verschwinden. Er brachte es einfach nicht fertig. Aber ebensowenig konnte er sich dazu entschließen, ihr die Wahrheit zu sagen.
»Bleibst du heute nacht hier draußen?« wollte Hyld wissen.
Erik schüttelte den Kopf. »In ein, zwei Stunden treibe ich die Herde zurück. Wulfric will, daß ich sie morgen auf die Felder bringe.«
Wulfric, Ælfrics Steward, überwachte den gesamten Landwirtschaftsbetrieb von Helmsby, und er legte großen Wert darauf, daß die Schafe gleich nach der Ernte auf die Stoppelfelder kamen, damit sie dort weideten und den Boden düngten. Erik verstand nicht das geringste von Landwirtschaft, denn seine Familie stammte aus der blühenden Hafenstadt Haithabu an
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