Das zweite Königreich
immer zu Dunstan aufgeschaut, hatte gedacht, was er dachte, gemocht, was er mochte, getan, was er sagte. Und so war es nur selbstverständlich, daß sie Dunstans leidenschaftlichen Haß auf den räuberischen Dänen geteilt hatte, schließlich hatte sie Grund genug. Dann hatte Guthric Cædmon überredet, bei ihrem Vater für Erik einzutreten, und darüber war es zwischen Guthric und Hyld zu einem heftigen Streit gekommen. Aber als sie Erik dann bei der Heuernte im vergangenen Sommer zum erstenmal gesehen hatte, schien die Meinung ihrer Brüder auf einmal eigentümlich belanglos. Man hatte ihm keine Sense anvertraut, weil alle ihn für gefährlich hielten, und er trug Fußketten, denn er hatte versucht wegzulaufen. Die Ketten klirrten leise und behinderten seinen Gang, als er den Schnittern Reihe um Reihe durch die Wiesen folgte und das frisch geschnittene Gras zum Trocknen ausbreitete, zusammen mit den Frauen und Kindern. Hyld hatte ihn eine Weile beobachtet, beinah fasziniert, wie man einen wilden Bär auf dem Jahrmarkt anstarrt. Widerwillig hatte sie sich eingestanden, daß er derschönste Mann auf der ganzen verdammten Heuwiese war. Daß man kaum umhinkam, ihn für seine trotzige Miene zu bewundern. Daß er sich selbst mit den Fußfesseln geschmeidiger bewegte als jeder andere. Und dann hatte er plötzlich den Kopf gehoben und sie angelächelt. Hyld verscheuchte diese Gedanken mit einem ungeduldigen Wink, trank einen Schluck aus dem Krug, den sie mitgebracht hatte, und lehnte die Schultern an Eriks Brust. »Bist du nicht hungrig?«
»Doch. Schrecklich.« Er griff in den Korb, ohne hinzusehen, bekam das Paket mit den Broten zu fassen und fiel darüber her. Hyld beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und lächelte verstohlen vor sich hin. Sie sah ihm furchtbar gern beim Essen zu. Er verschlang immer alles in wenigen, großen Bissen, kaute emsig und schluckte gierig.
»Was ist so komisch?« fragte er mit vollem Mund.
»Du, natürlich. Du ißt genau wie meine Brüder.«
Er zog die Stirn in Falten und schluckte. »Dann gibt es immerhin etwas, das wir gemeinsam haben, deine Brüder und ich.«
»Oh, mehr als nur das. Sie sind anständige Kerle, einer wie der andere.« »O ja. Vor allem Dunstan.«
Sie wurde nicht mehr wütend, wenn er auf Dunstan schimpfte. Sie gab vor, in diesem Punkt vollkommen neutral zu sein, doch in letzter Zeit hatte sie sich häufiger dabei ertappt, daß sie ihren großen Bruder nicht mehr so rückhaltlos vergötterte wie früher. Das machte ihr zu schaffen. Also hatte sie mit ihrer Mutter darüber gesprochen, aber Marie hatte nur erwidert: »Du wirst erwachsen, Hyld. Das ist alles.«
In dem Moment war die Versuchung fast unwiderstehlich gewesen, sich ihrer Mutter anzuvertrauen. Ihr zu gestehen, was es in Wahrheit war, das sie so verändert hatte. Aber das war natürlich völlig undenkbar. Zu spät war ihr aufgegangen, daß der einzige Mensch, mit dem sie über Erik hätte reden können, Guthric war, ausgerechnet der Bruder, der ihr immer fremd gewesen war. Und jetzt war er fort, war ohne einen Augenblick zu zögern mit dem fremden Mönch, den Cædmon ihnen aus Rouen geschickt hatte, nach Ely gegangen.
»Gott, sie fehlen mir so schrecklich. Guthric und Cædmon.«
Erik drückte die Lippen auf ihren Scheitel. »Ja, ich weiß.«
»Wie es ihnen wohl geht? Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was für ein Leben sie jetzt führen. Guthric als Novize in einem Kloster. Er wird lesen lernen. Womöglich gar schreiben.«
»Und Latein.«
»Nicht zu fassen. Und Cædmon …« Sie brach ab. Sie wußte, Erik redete nicht gern über Cædmon.
Aber er fragte unerwartet: »Was ist mit ihm?«
»Na ja. Letzte Nacht hab ich wachgelegen und versucht, mir sein Gesicht vorzustellen. Und … es ging nicht. Ich weiß nicht mehr genau, wie er aussieht.«
Er nickte und zog sie ein bißchen näher. »Ja, das ist furchtbar. Mir geht es mit meinen Geschwistern ebenso.« Seine Eltern waren schon einige Jahre tot, aber er hatte eine Schwester und einen Bruder, beide jünger als er, die jetzt im Haus des Onkels lebten, der das Kommando über ihr unseliges Unterfangen geführt und den Ælfric in Metcombe erschlagen hatte. Erik wußte nicht, was aus seinen Geschwistern geworden war, nachdem der Onkel nicht hatte heimkehren können. Das war eine der vielen Sorgen, die ihn nachts wachhielten. »Wenn ich an sie denke und versuche, mir ihre Gesichter in Erinnerung zu rufen, sind es immer nur vage Bilder, die ich sehe.
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