Das zweite Königreich
Vielleicht wird er denken, ein kranker König in Westminster und eine Revolte in Northumbria sind der richtige Moment, und dann …« Er brach unvermittelt ab, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm, und fuhr herum. »Was hast du hier verloren?« fragte er barsch.
Erik trat aus dem Schatten an den Tisch, ignorierte Dunstan und verneigte sich knapp vor Ælfric. »Ich bitte um Verzeihung …«
»Was willst du?« knurrte Ælfric kaum weniger barsch.
Ja, was will ich, dachte Erik ratlos und betete um eine Eingebung. Er hatte keineswegs die Absicht gehabt aufzufallen. Er starrte auf seine Füße, um Verlegenheit vorzutäuschen und sich daran zu hindern, Hyld anzusehen, die still und blaß neben der Mutter saß und auf ihren leeren Holzteller hinabblickte. »Ähm … kann ich morgen früh in die Kirche, Thane? Es ist nur, ich sollte die Herde auf die Felder treiben, aber … es ist der Todestag meiner Mutter, und ich …«
»Herrgott noch mal, frag Wulfric«, herrschte Ælfric ihn an.
Erik nickte und wandte sich ab.
»Was war mit deiner Mutter, he?« fragte Dunstan. »Habt ihr sie mit auf Kaperfahrt genommen und an die Mauren verkauft?«
Hylds Kopf ruckte hoch.
»Dunstan!« schalt Marie ungehalten.
Erik blieb stehen und sah ihn an. Er sagte nichts. Er richtete so selten wie möglich das Wort an Dunstan oder Ælfric, und wenn es unvermeidbar war, sprach er langsam und stockend, übertrieb seinen Akzent und gab vor, längst nicht alles zu verstehen, was er hörte. Es war besser, wenn sie glaubten, er könne ihre Sprache nicht meistern. Sie achteten nicht so sehr darauf, was sie sagten, wenn er in der Nähe war, und sie redeten so gut wie nie mit ihm, weil es ihnen zu umständlich war. Aber er hatte immer Mühe, seine Abscheu vor Dunstan zu verbergen. So auch jetzt. Ich wünsche dir von ganzem Herzen, daß deine Frau einmal so elend im Kindbett verrecken muß wie meine Mutter, dachte er hitzig. Ich wünsche dir, daß du dabeistehen und zusehen mußt und daß es dir das Herz zerreißt. Aber nicht einmal auf dänisch konnte er das zu ihm sagen, die Gefahr war zu groß, daß Dunstan einzelne Worte verstand.
»Was starrst du mich so an, Schwachkopf«, grollte Dunstan. »Mach, daß du wegkommst.«
Erik entfernte sich lautlos, und Marie bedachte ihren Ältesten mit einem Kopfschütteln. »Es besteht kein Grund, jemanden so zu behandeln, Dunstan. Er verbüßt seine Schuld, indem er hierbleiben und hart für uns arbeiten muß, und das ist genug. Ganz gleich, was er getan hat, er ist ein menschliches Wesen.«
Dunstan schnaubte. »Er ist nichts als ein Häufchen Dreck. Jedenfalls, wenn Harold Godwinson Truppen aushebt, will ich mit ihm gehen, Vater.«
»Ich weiß. Das hast du mir schon wenigstens ein dutzendmal gesagt«, erwiderte Ælfric trocken.
»Und?« hakte Dunstan nach. »Bist du einverstanden?«
Ælfric nickte zögernd. »Natürlich. Wenn es wirklich dazu kommt.« Dunstan lächelte zufrieden, stand auf und streckte sich mit einer komischen Grimasse. »Gott, mir tun alle Knochen weh. Was für ein Ritt. Ich gehe schlafen.« Er packte seinen kleinen Bruder nicht gerade sanft im Nacken und zog ihn von der Bank hoch. »Komm mit, Zwerg. Höchste Zeit für dich. Das gilt auch für dich, Hyld.«
Hyld hatte eine scharfe Antwort auf der Zunge. Sie haßte es, wenn Dunstan sie herumkommandierte, und natürlich nahm sie ihm übel, wie verächtlich er mit Erik sprach. Aber es war zu gefährlich, sich ihren Unwillen anmerken zu lassen. Wortlos stand sie auf und folgte ihren Brüdern zu dem Alkoven hinter dem Herd, der den Kindern des Thane vorbehalten war.
Ælfric und Marie zogen sich auch bald zurück.
»Ist das dein Ernst?« fragte Marie, als sie den schweren Bettvorhang zurückschob. »Du willst Dunstan wirklich gehen lassen?«
Ælfric nahm sein Schwert ab und legte es auf die Truhe unter dem pergamentbespannten Fenster. »Er wird bald achtzehn Jahre alt, Marie. Du kannst ihn nicht ewig hierhalten.«
»Nein, ich weiß. Es ist nur … ein bißchen viel auf einmal. Drei Söhne in einem Jahr.« Sie setzte sich auf die Bettkante, schlug die Decke zurück und legte sich hin.
»Du redest, als wären sie tot. Das ist albern. Sie werden nur erwachsen und gehen fort, so ist das nun mal.«
Cædmon war nicht erwachsen, als er fort mußte, dachte sie, aber sie hatte nicht vor, noch einmal an diesen bitteren Kelch zu rühren. UndÆlfric hatte ja recht. Mochten ihre Söhne auch weit fort sein, wußte sie sie doch gut
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