Das zweite Zeichen
hatte die Frau eines Polizisten angegriffen!
Plötzlich war sie sich ganz unsicher. Warum war sie überhaupt gekommen? Konnte sie die Sache
jetzt noch durchziehen? Zusammen mit einer Familie verließ sie den Krankensaal, dann lehnte sie
sich draußen im Flur gegen die Wand. Konnte sie? Ja, wenn sie die Nerven behielt. Ja, sie konnte
es.
Sie tat so, als betrachtete sie einen Getränkeautomaten, als Holmes durch die Pendeltür des
Krankensaals kam und sich langsam über den Flur von ihr entfernte. Sie wartete volle zwei
Minuten, zählte bis hundertzwanzig. Er kam nicht zurück. Er hatte nichts vergessen. Tracy wandte
sich von dem Getränkeautomaten ab und ging auf die Pendeltür zu.
Für sie fing die Besuchszeit gerade erst an.
Sie war noch nicht weit gekommen, als eine junge Krankenschwester sie anhielt.
»Die Besuchszeit ist vorbei«, sagte die Schwester.
Tracy versuchte zu lächeln, versuchte, normal auszusehen. Das war schwierig, doch lügen war
einfach.
»Ich hab meine Uhr verloren. Ich glaube, ich hab sie bei meiner Schwester am Bett liegen lassen.«
Sie deutete mit dem Kopf in Nells Richtung. Nell, die das Gespräch mitbekam, hatte sich zu ihr
umgedreht.
Sie riss die Augen weit auf, als sie Tracy erkannte.
»Aber beeilen Sie sich bitte«, sagte die Schwester im Weitergehen.
Tracy lächelte die Schwester an und sah ihr nach, als sie durch die Pendeltür ging. Jetzt waren
nur noch die Patienten in ihren Betten da, eine plötzliche Stille, und sie. Sie ging auf Nells
Bett zu.
»Hallo«, sagte sie. Sie schaute auf das Krankenblatt, das am Ende des eisernen Bettgestells
befestigt war. »Nell Stapleton«, las sie.
»Was wollen Sie?« Nells Augen zeigten keine Angst. Ihre Stimme war schwach, weil sie hinten aus
dem Rachen kam und nicht von ihrer Nase unterstützt wurde.
»Ich wollte Ihnen was sagen«, sagte Tracy. Sie kam ganz dicht an Nell heran und hockte sich auf
den Boden, so dass man sie von der Tür des Krankensaals aus kaum sehen konnte. Sie hoffte, dass
es so aussähe, als würde sie nach ihrer Uhr suchen. »Ja?«
Tracy lächelte, weil sie Nells merkwürdige Stimme amüsant fand. Sie klang wie eine Marionette in
einer Kindersendung. Doch das Lächeln verging ihr rasch und sie wurde rot, weil ihr wieder
einfiel, dass sie nur deswegen hier war, weil es ihre Schuld war, dass diese Frau hier
lag. Die Pflaster über der Nase, die Blutergüsse unter den Augen, das war alles ihr Werk.
»Ich bin gekommen, um zu sagen, dass es mir Leid tut. Das ist eigentlich alles. Bloß dass es mir
Leid tut.«
Nells Blick war starr.
»Und«, fuhr Tracy fort, »nun ja... nichts.«
»Erzählen Sie's mir«, sagte Nell, aber das Sprechen war viel zu anstrengend für sie. Sie hatte
die meiste Zeit geredet, als Brian Holmes da war, und ihr Mund war trocken. Sie drehte sich um
und griff nach dem Krug mit Wasser auf dem Schränkchen neben dem Bett.
»Lassen Sie mich das machen.« Tracy goss Wasser in einen Plastikbecher und gab ihn Nell, die in
kleinen Schlucken trank, um ihren Mund zu befeuchten. »Schöne Blumen«, sagte Tracy.
»Von meinem Freund«, sagte Nell zwischen zwei Schlucken.
»Ja, ich hab gesehen, wie er gegangen ist. Er ist Polizist, nicht wahr? Ich weiß das, weil ich
eine Bekannte von Inspector Rebus bin.«
»Ja, ich weiß.«
»Das wissen Sie?« Tracy schien schockiert. »Dann wissen Sie also, wer ich bin?«
»Ich weiß, dass Sie Tracy heißen, wenn Sie das meinen.«
Tracy biss sich auf die Unterlippe. Ihr Gesicht wurde wieder rot.
»Das spielt doch keine Rolle, oder?«, sagte Nell.
»Nein.« Tracy versuchte, locker zu klingen. »Es spielt keine Rolle.«
»Ich wollte Sie fragen...«
»Ja?« Tracy schien erpicht darauf, das Thema zu wechseln.
»Was wollten Sie eigentlich in der Bibliothek?«
Die Frage gefiel Tracy nicht besonders. Sie dachte kurz nach, zuckte die Achseln und sagte: »Ich
wollte nach Ronnies Fotos suchen.«
»Ronnies Fotos?« Nell horchte auf. Das wenige, was Brian während der Besuchszeit gesagt hatte,
hatte sich auf die Fortschritte im Fall Ronnie McGrath bezogen, insbesondere auf die Entdeckung
einiger Fotos im Haus des toten Jungen. Wovon redete Tracy da?
»Ja«, sagte sie. »Ronnie hat sie in der Bibliothek versteckt.«
»Was waren das denn für Fotos? Ich meine, warum musste er sie verstecken?«
Tracy zuckte die Achseln. »Er hat mir nur erzählt, das wär seine Lebensversicherungspolice. Genau
das hat er gesagt, Lebensversicherungspolice .«
»Und wo genau hat er sie
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