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Das zweite Zeichen

Titel: Das zweite Zeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Rankin
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vorbeiquetschte.
»Du hättest doch nicht extra aufstehen müssen, Schatz«, sagte er.
»Bei diesem lauten Gehupe konnte doch kein Mensch mehr weiterschlafen.« Ihr Blick fiel auf das
Tablett. »Du hast den Zucker vergessen«, sagte sie kritisierend.
»Ich nehm keinen Zucker«, sagte Rebus. Tony schenkte Tee aus der Kanne in zwei Tassen.
»Erst die Milch, Tony, dann den Tee«, sagte sie, ohne auf Rebus'
Bemerkung einzugehen.
»Das ist vollkommen egal, Sheila«, sagte Tony. Er reichte Rebus eine Tasse.
»Danke.«
Sie stand noch ein bis zwei Sekunden da und beobachtete die beiden Männer, dann fuhr sie mit
einer Hand an ihrem Morgenrock herunter.
»Okay«, sagte sie. »Dann gute Nacht.«
»Gute Nacht«, erwiderte Rebus.
»Sieh zu, dass es nicht zu spät wird, Tony.«
»Mach ich, Sheila.«
Sie lauschten, wie sie die Treppe zum Schlafzimmer hinaufging, und nippten dabei an ihrem Tee.
Dann atmete Tony McCall hörbar aus.
»Tut mir Leid«, sagte er.
»Was denn?«, sagte Rebus. »Wenn zwei Betrunkene mitten in der Nacht bei mir hereingeplatzt
wären, was meinst du, was die von mir zu hören gekriegt hätten! Ich finde, sie ist erstaunlich
ruhig geblieben.«
»Sheila ist immer erstaunlich ruhig. Zumindest nach außen hin.«
Rebus deutete mit dem Kopf auf Tommy. »Was machen wir mit ihm?«
»Er kann da ruhig liegen bleiben und seinen Rausch ausschlafen.«
»Bist du sicher? Ich kann ihn nach Hause fahren, wenn du...«
»Nein, nein, um Gottes willen, er ist mein Bruder. Ein Sessel für die Nacht ist doch wohl das
Mindeste, was ich für ihn tun kann.« Tony schaute zu Tommy herüber. »Sieh ihn dir an. Du würdest
kaum glauben, was für einen Unsinn wir als Kinder getrieben haben. Wir haben die ganze
Nachbarschaft in Angst und Schrecken versetzt. An den Haustüren geklingelt, Feuer gelegt, Leuten
mit dem Fußball die Scheibe eingeschmissen. Wir waren ganz schön wüst, kann ich dir sagen. Jetzt
sehe ich ihn nur noch, wenn er in diesem Zustand ist.«
»Soll das heißen, er hat diese Nummer schon mal abgezogen?«
»Ein paar Mal. Kommt mit dem Taxi angefahren und pennt im Sessel ein. Am nächsten Morgen weiß er
dann nicht mehr, wie er hergekommen ist. Er frühstückt, steckt den Kindern ein paar Pfund zu und
ist wieder weg. Er ruft niemals an oder kommt ganz normal zu Besuch. Und eines Nachts hören wir
draußen wieder ein Taxi brummen, und da ist er.«
»Das war mir nicht klar.«
»Ach, ich weiß auch nicht, warum ich dir das erzähle, John. Ist schließlich nicht dein
Problem.«
»Es macht mir nichts aus, mir das anzuhören.«
Aber Tony McCall schien nicht weiter darüber reden zu wollen. »Wie gefällt dir das Zimmer?«,
fragte er stattdessen.
»Es ist sehr hübsch«, log Rebus. »Man merkt, dass da viel Mühe drin steckt.«
»Das stimmt.« McCall klang nicht überzeugt. »Und viel Geld. Siehst du die Glasfigürchen da? Du
kannst dir nicht vorstellen, wie viel ein einziges von denen kosten kann.«
»Tatsächlich?«
McCall betrachtete den Raum, als wäre er der Gast. »Willkommen bei mir daheim«, sagte er
schließlich. »Ich glaub, ich würde lieber in einer der Zellen auf der Wache wohnen.« Er stand
auf, ging zu Tommys Sessel hinüber und hockte sich vor seinen Bruder, der ein Auge offen hatte.
Es wirkte vom Schlaf ganz glasig. »Du Scheißkerl«, flüsterte Tony McCall. »Du verdammter
Scheißkerl.« Und dann senkte er den Kopf, damit man seine Tränen nicht sehen konnte.

Es wurde bereits hell, als Rebus die vier Meilen zurück nach Marchmont fuhr. Er hielt an einer
Bäckerei an, die vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte, und kaufte warme Brötchen und kalte
Milch. Das war die Zeit, wo er die Stadt am liebsten mochte, die wohltuend friedliche Atmosphäre
eines frühen Morgens. Er fragte sich, warum die Leute nicht einfach zufrieden mit ihrem Schicksal
sein konnten, Ich hab alles, was ich nie gewollt habe, und es reicht trotzdem nicht. Er
selbst wollte jetzt nur noch schlafen, und diesmal im Bett und nicht im Sessel. Vor seinen Augen
lief immer wieder die gleiche Szene ab: Tommy McCall, völlig weggetreten, das Kinn voller
Speichel, und Tony McCall, wie er vor ihm hockte und sein Körper bebte, überwältigt von Gefühlen.
Ein Bruder war etwas Furchtbares. Ein Leben lang ist er dein Konkurrent, und trotzdem kannst du
ihn nicht hassen, ohne dich selbst zu hassen. Und er sah noch andere Bilder vor sich: Malcolm
Lanyon in seinem Arbeitszimmer, Saiko, wie sie in der Tür stand, James Carew tot in

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