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Dauerhaftes Morgenrot

Dauerhaftes Morgenrot

Titel: Dauerhaftes Morgenrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Zoderer
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gestanden und habe mich lebendig gefühlt. Und an Livia schrieb er: Ich habe heute sehr früh am Morgen das Meer gerochen und wußte, daß das Wasser zu meinen Füßen ein Teil war auch des Indischen Ozeans.
    Ãœber Lautsprecher wurde die Abfahrt eines Zuges nach Venedig ausgerufen: Bahnsteig vier, Bahnsteig vier. Aber alle Bahnsteige waren wie die Bahnhofsbar fast menschenleer.
    Bevor er auf die Straße trat, zerriß er die beiden Ansichtskarten und warf die Papierstücke durcheinandergemischt in zwei verschiedene Abfallkörbe.
    Er entschied sich für die Straße, die vom Bahnhofsplatz aus nach Norden führte, sie war nur durch eine Mauer von den Geleisen getrennt, und er trottete lange neben ihr her. Die Mauerkrone war bestückt mit eingemörtelten grünen, braunen und wassergrauen Glasscherben, kilometerlang war diese Mauer, Lukas hörte dahinter die Züge vielleicht aus Rom, Kopenhagen und Wien. Der Gehsteig war frisch geteert und zur Straße hin von Platanen flankiert. Kaum, daß ihn jemand überholte oder ihm entgegenkam. Ich will nicht mehr an dich denken, ich will dich nicht denken.
    Im Rinnstein, zwischen Gehsteigkante und Straße, war die angeschwemmte Erde rötlich getrocknet, es machte ihm Spaß, in die Krusten zu treten, mehrmals tappte er mit einem Fuß hinein und sah den Abdruck der Schuhsohle wie herausgeschnitten für eine Fahnderkartei.
    Einmal versuchte er den Tritten eines Jogging-Läufers nachzuspringen, allerdings in entgegengesetzter Richtung, dabei bemerkte er, daß die Platanen sich schälten wie Menschen, deren Krätze zu kleinen, runden, manchmal gezackten Plättchen schrumpfte: es gab phosphorisch weißgrüne Platanenstämme, aber auch bläuliche Rinden. An einem Baum sah er in Brusthöhe einige Schraubverschluß-Kapseln von Whisky- und Colaflaschen angenagelt, und eine rote Plastikrose, in deren Mund ein Nagelkopf rostete.
    Ich habe einen Gummibaum mit der Hand in zwei Teile zerknickt, ich erfinde die Todesarten mit Worten, ich habe zehn Fragen, die ich nicht aussprechen will, ich will nicht die Erde ablaufen, aber ich will laufen und nochmals laufen: Ich nütze jede Art von Hoffnung, sogar das Muskeltraining, jedes Querfeldeinlaufen nütze ich.
    Im Efeugestrüpp unter der Mauer hingen eine halbe Obstkiste und da und dort ganze und zerbrochene Flaschen. Ein Fernlaster donnerte vorbei, in Schwaden quoll der Gestank des verbrannten Dieselöls aus dem Auspuff, Lukas riß den Mund auf, zog seinen Schal enger und atmete tief durch, ich fresse mich durchs Leben, und allein dieses Wort machte ihm Lust auf irgend etwas, er wußte nicht was. Er wechselte die Straßenseite, durchquerte eine Unterführung und bemerkte erst nach einer Weile, daß die Mauer verschwunden war, daß er keine Züge mehr hörte, obwohl er noch Masten und Drähte sah und einmal den Schlund eines Tunnels. Der Wind war eingeschlafen, und dort, wo die Mauer aufgehört hatte, glänzte das Meer zwischen den Häusern, weit draußen lag ruhig ein Öltanker; durch die eine und die andere Häuserlücke sah er lange immer wieder das Schiff.
    Mitten auf der Fahrbahn zog Lukas den rotwollenen Schal vom Hals und versuchte ihn während des Laufens zum Flattern zu bringen, aber er brachte keinen Wind zustande und mußte den Schal über die Schulter legen, um niemanden mit seinem Gefackel zu irritieren. Draußen auf den Brecherfelsen knöpfte er den Mantel auf, Möwen wärmten ihren Bauch in Betonmulden, seine Finger spielten mit der pelzigen Fruchtkugel einer Platane, für ein paar Minuten zeichnete sich der Rand der Sonne im Dunsthimmel ab, Lukas bildete sich ein, die Strahlen durch den Mantel hindurch zu fühlen, und tatsächlich war ein goldener Schmetterling auf die Betonwand gemalt, die den Strand von der Stadt trennte; in sommerlich freudigen Farben waren Schiffe und Sonnen und Seesterne und springende Kinder in Orangerot und Blau auf die Betonsockel gepinselt, und sogar ein Hund, der mit einem Papierknäuel im Maul zu einem Abfallkorb trabte.
    Lukas freute sich, als er zum Brunnen der vier Winde zurückkehrte, als sei er schon lange nicht mehr dort gewesen. Mit dem Finger durchstieß er mehrmals die dünne Eisschicht, er kratzte an den weißkalkigen Flechten der Windfiguren, rieb gelbgrünes abgezupftes Moos zwischen den Händen. Auch hier war während des Winters das Wasser

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