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Dauerhaftes Morgenrot

Dauerhaftes Morgenrot

Titel: Dauerhaftes Morgenrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Zoderer
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seine Bäume gesehen hat, so wie er nie das Gras im Garten als das Gras gesehen hat, auf dem er sterben würde, obwohl er sich ein Grasgrab vorstellen konnte. Er zog die Schuhe an, knöpfte die Hemdärmel zu, schlüpfte in Jacke und Mantel, setzte sich mit dem Hut über einem Knie noch einmal auf den Bettrand, er war sicher, sie würden ihn holen kommen. Vielleicht würde sich zunächst nur ein Türspalt öffnen und die schmuddelige Alte würde den Kopf hereinstecken, wahrscheinlich würde sie stumm bleiben oder höchstens etwas Fremdklingendes zischeln und wieder verschwinden, vielleicht um ihm vor seinem Weggehen noch einen Kaffee zu bringen; seine Zunge klebte am Mundfleisch, er schmeckte den Gaumen.
    Mit dem Hut auf dem Kopf versuchte er sich auf den Zehenspitzen aufzurichten, ohne vornüberzukippen, es gelang ihm, zwei schnelle, kurze Schritte zu machen, bevor er das Gleichgewicht verlor und dabei so heftig gegen einen Wandschrank stieß, daß einige Fläschchen vom Gesims kollerten und eines auf dem Boden zerbrach, die Flüssigkeit verbreitete sofort einen öligen Kräuterduft. Lukas hatte sich an das Graulicht gewöhnt, er sah die Umrisse des Bettes, die Wellen der zurückgeschlagenen Decke, den kleinen Tisch, zwei Sessel und die vielen Fotografien an der Wand, die Gesichter und Haltungen verschwammen, jetzt würde er gleich Füße zu hören kriegen, schlurfende oder hart aufschlagende Schritte; er bewegte sich nicht, bückte sich nicht nach den Fläschchen, erst nach einer Weile, als niemand gelaufen kam, kniete er sich nieder und sammelte die Scherben ein und stellte die unzerbrochenen Fläschchen auf das Bord des Schranks, den abgesplitterten Hals ließ er liegen. Langsam öffnete er die Tür und erschrak, weil der Wohnungsflur beleuchtet war und er sofort das Gesicht der gedrungenen Frau erkannte, die fast auf Reichweite ihm zulächelte, völlig verwandelt in ihrem Aussehen, maskiert und kostümiert, in schwarzen Lackschuhen mit Bleistiftabsätzen stand sie vor ihm, in einer silbrigen Pluderhose und einem scharlachroten Seidenhemd, das alte Gesicht weiß gepudert und geschminkt unter einer blondlockigen Perücke.
    Komm, winkte sie Lukas, so blaß bist du, komm, sie streckte ihre kurzfingrige Hand nach ihm aus, ein breiter Armreifen mit Bijouterieperlen und Glöckchen klimperte an ihrem Gelenk, sie faßte Lukas an einem Mantelärmel und zog ihn näher heran, ihr süßliches Parfüm erinnerte ihn an abgesengte Hühnerhaut, an ein überbrühtes, geköpftes Huhn, aber auch an die Gerüche einer im Frühling geöffneten Kleidertruhe, an glimmende Weihrauchstäbchen und an Kampfer und Baldrian, an den Atem eines welken, säuerlichen Mundes, der sich über seine Nase stülpt und an seinen Nasenlöchern lutschend herunterrutscht auf seine geöffneten Lippen. Margarita, so hatte der Dicklippige sie gerufen, stellte sich auf einen Schemel neben der Garderobe im Flur, hob ihm den Hut vom Kopf und hängte ihn an einen Holzarm, behutsam schälte sie seine Arme wieder aus dem Mantel, zog den Trenchcoat wie eine Haut von seinem Körper, ließ ihn zu Boden fallen, Lukas sah den Speichelfaden zwischen ihrer Ober- und Unterlippe und fühlte ihre Hände.
    Im Bad am Ende des Flures hörte er sich würgen, kostete er den Gallegeschmack, er hielt den Mund unter den Wasserhahn des Beckens, das Wasser füllte ihn bis zur Kehle, lief über Wangen und Nase und Augen und Stirn, er sah in den Spiegel und versuchte das Aus- und Einstülpen der Ober- und Unterlippe zu mimen, wobei sich der Mund trichterförmig verengte, er probierte diesen Fischmund, dieses kontrollierte Ausatmen, diese Anstrengung, die zuckenden Gesichtsmuskeln unter Kontrolle zu halten. Er trocknete das Gesicht mit Toilettenpapier, in die blauen und rosafarbenen flauschigen Handtücher wollte er nicht seine Augen wischen, mit gekämmten Haaren trat er auf den Gang hinaus.
    Komm, setz dich in die Küche, hörte er Margaritas Vogelstimme und ließ seine Hand, die sich schon nach dem Hut am Kleiderständer streckte, wieder sinken.
    Komm, jetzt ist der Kaffee noch heiß, es gibt Brioches und Honig und Wurst und Käse, was immer dein Herz begehrt. Sie kicherte, sie lachte ihn aus, und doch hörte Lukas keinen Hohn, nur Lustigkeit in ihrer Stimme, die ihn lockte, ja, sagte er, ja, und ging in die Küche und

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