Daughter of Smoke and Bone
Aber das Chimärenmädchen regte sich nicht. Lange Zeit starrten sie einander an. Sie legte den Kopf schräg, eine fragende, vogelartige Bewegung, die keine Grausamkeit ausdrückte, sondern Neugierde. Sie machte keine Anstalten, ihn anzugreifen. Ihr Gesicht war ernst.
Unerklärlicherweise war sie sehr schön.
Sie trat noch einen Schritt näher. Er beobachtete ihr Gesicht, dann wanderte sein Blick über ihren langen Hals herab zu ihren Schlüsselbeinen. Ihre seidigen, dunklen Haare waren kurz wie Schwanenfedern, so dass sie ihr ebenmäßiges Gesicht nicht verdeckten, sondern perfekt umrahmten. Schwarze Schminke betonte ihre braunen Augen – Akiva konnte sehen, wie groß und leuchtend sie waren, voller Leben und voller Kummer.
Er wusste, dass der Kummer ihren gefallenen Kameraden galt, nicht ihm, aber trotzdem war er tief berührt von dem Mitleid in ihren Augen. Unwillkürlich musste er daran denken, dass er noch nie zuvor eine Chimäre wirklich angesehen hatte. Natürlich begegnete er gelegentlich Chimärensklaven, aber sie schauten immer zu Boden, und wenn er auf Krieger traf, musste er sich darauf konzentrieren, einem tödlichen Angriff auszuweichen oder selbst zuzuschlagen. Der Rausch einer Schlacht machte ihn fast blind für alles andere. Wenn er das Blut an ihrer Klinge und ihre enganliegende schwarze Rüstung, ihre teuflischen Flügel und Hörner ignorierte, wenn er sich nur auf ihr Gesicht konzentrierte – ihr so unerwartet hübsches Gesicht –, dann sah sie aus wie ein Mädchen. Ein Mädchen, das am Strand einen sterbenden jungen Mann gefunden hatte.
Für einen Moment war das alles. Er war kein Soldat und auch nicht irgendjemandes Feind, selbst sein bevorstehender Tod schien bedeutungslos. Dass sie lebten, wie sie lebten, in einem ewigen Kreislauf aus Hass und Tod, Tod und Hass, schien wie eine völlig willkürliche Entscheidung.
Als könnten sie sich genauso gut
gegen
den Tod und den Hass entscheiden.
Aber nein. Das war alles, was es zwischen ihnen gab. Und dieses Mädchen war aus dem gleichen Grund hier wie er: um den Feind zu töten. Und in diesem Fall hieß das, sie würde
ihn
töten.
Warum tat sie es also nicht?
Sie kniete sich an seine Seite, ohne sich im Geringsten vor einem unerwarteten Angriff zu schützen, und ihm fiel das Messer an seiner Hüfte ein. Es war klein, nichts im Vergleich zu ihren Mondsichelklingen, aber es konnte sie töten. Eine schnelle Bewegung, und er hätte die Klinge in der sanften Kurve ihres Halses versenkt. In ihrem perfekten Hals.
Aber er regte sich nicht.
Inzwischen war er wie im Traum verloren. Der Blutverlust benebelte seine Gedanken. Als er erneut in das Gesicht des Mädchens blickte, fragte er sich nicht länger, ob all das real war. Es konnte der Traum eines sterbenden Mannes sein. Oder sie war vielleicht eine Todesbringerin, die aus dem Jenseits gekommen war, um seine Seele zu holen. Aus dem silbernen Gefäß an ihrem Stab stieg dichter Qualm auf, der nach Kräutern und Schwefel roch, und als er ihn einhüllte, spürte Akiva eine seltsame Anziehung, ein
Locken
. Benommen, wie er war, hätte er nichts dagegen gehabt, dieser Todesbotin ins Jenseits zu folgen.
Er stellte sich vor, wie sie ihn ins nächste Leben geleitete, und mit diesem beruhigenden Bild vor seinem inneren Auge griff er nach ihrer Hand und umschloss sie mit der seinen, an der sein Blut klebte.
Ihre Augen weiteten sich, und sie zog ihre Hand weg.
Offenbar hatte er sie erschreckt; das hatte er nicht beabsichtigt. »Ich komme mit dir«, sagte er in der Sprache der Chimären, die er gut genug konnte, um den Sklaven Befehle zu geben. Es war eine harte Sprache, die aus all den vielen verschiedenen Dialekten der Stämme entstanden war, die das Imperium vereinigt hatte. Er konnte seine eigene Stimme kaum hören, aber sie hatte ihn verstanden.
Ihr Blick schweifte zu dem Räuchergefäß, dann zurück zu ihm. »Das ist nicht für dich«, sagte sie und steckte den Stab in den Sand, so dass der Wind den Rauch davontrug. »Ich denke nicht, dass du dorthin mitkommen willst, wo ich hingehe.« Obwohl die Sprache etwas Animalisches hatte, war ihre Stimme so lieblich wie Musik.
»In den Tod«, raunte Akiva. Jetzt, wo er seine Wunde nicht mehr zudrückte, verließ das Leben ihn sehr rasch. »Ich bin bereit.«
»Ich aber nicht. Ich habe gehört, dass es ganz schön langweilig sein soll, tot zu sein.«
Sie sagte es unbekümmert, amüsiert, und er schaute verwundert zu ihr auf. Hatte sie gerade einen
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