Daughter of Smoke and Bone
Scherz gemacht? Jedenfalls lächelte sie.
Sie
lächelte
.
Er erwiderte ihr Lächeln, als hätte es einen Reflex in ihm ausgelöst. »Langweilig klingt gut«, sagte er und schloss die Augen. »Vielleicht komme ich dann endlich mal wieder zum Lesen.«
Sie lachte, und Akiva, der immer tiefer driftete, überlegte, ob er vielleicht schon tot war. Diese Szene konnte sich doch wohl nicht in der Realität abspielen? Inzwischen fühlte er seine Schulter nicht mehr, und so merkte er auch nicht, dass sie ihn berührte, bis ihn ein scharfer Schmerz durchfuhr. Er ächzte und riss die Augen wieder auf. Hatte sie ihn nun doch erstochen?
Nein. Sie hatte einen Druckverband auf seine Wunde gelegt. Daher kam der Schmerz. Verwundert sah er sie an.
»Ich würde dir raten, weiterzuleben«, sagte sie.
»Ich werde es versuchen.«
Plötzlich erklangen ganz in ihrer Nähe Stimmen. Chimären. Das Mädchen erstarrte und legte den Finger an die Lippen.
Sie tauschten einen letzten Blick. Der Nebel verschleierte die Sonne hinter ihr, doch ihre Hörner und Flügel waren in helles Licht getaucht. Ihre kurz geschorenen Haare waren wie Samt – sie sahen so weich aus wie der Hals eines Fohlens –, und ihre pechschwarzen Hörner glänzten. Trotz der schwarzen Maske um ihre Augen war ihr Gesicht wunderschön und ihr Lächeln wie warmer Sonnenschein. Noch nie hatte Akiva etwas so Schönes gesehen; ihr Anblick traf ihn mitten ins Herz und berührte einen Ort tief in seinem Inneren, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass er existierte. Das Gefühl war so neu und so merkwürdig, als hätte sich ein Auge in seinem Hinterkopf geöffnet, das in eine andere Dimension sehen konnte.
Er wollte ihr Gesicht berühren, aber er hielt sich zurück, weil seine Hand voller Blut war, und außerdem fühlte sich selbst sein unverletzter Arm so schwer an, dass er bezweifelte, ob er ihn überhaupt heben konnte.
Doch sie hatte denselben Impuls, hob die Hand, zögerte und fuhr dann sanft mit ihren kühlen, kühlen Fingerspitzen über seine fieberheiße Stirn, über seine Wangen und zu dem Punkt unter seinem Ohr, wo sein Puls schlug. Dort hielt sie einen Augenblick inne, als wollte sie sich vergewissern, dass sein Herz noch immer Leben in seine Adern pumpte.
Konnte sie fühlen, wie sich sein Puls unter ihrer Berührung beschleunigte?
Und dann, mit einem Satz, hatte sie sich aufgerichtet und ihn verlassen. Die Flügel halb entfaltet, bewegte sie sich auf ihren langen, schlanken Gazellenbeinen so anmutig und leicht, dass es fast aussah, als würde sie schweben.
In einiger Entfernung stieß ihre Schattengestalt auf andere Chimären – grobschlächtige Bestien, die nichts von ihrer geschmeidigen Eleganz besaßen. Raue, knurrende Laute drangen zu ihm herüber und dazwischen ihre sanfte, beruhigende Stimme. Er vertraute darauf, dass sie die anderen von ihm wegführen würde, und das tat sie auch.
Akiva lebte, und die Erfahrung veränderte ihn.
»Wer hat dir den Verband angelegt?«, fragte Liraz ihn später, als sie ihn gefunden und in Sicherheit gebracht hatte. Er behauptete, er wüsste es nicht.
Akiva fühlte sich, als wäre er sein ganzes bisheriges Leben in einem Labyrinth umhergeirrt, und auf dem Schlachtfeld bei Bullfinch hatte er nun endlich das Zentrum erreicht. Sein eigenes Zentrum, seine Mitte – den Ort, wo seine Gefühle sich aus der Betäubung befreit hatten. Er hatte nie auch nur vermutet, dass ein solcher Ort existieren könnte, bis der Feind sich an seine Seite gekniet und sein Leben gerettet hatte. Er erinnerte sich an das Chimärenmädchen wie an einen schönen Traum – aber sie war kein Traum.
Sie war real, und sie existierte, irgendwo auf der Welt. Wie ein Tier, von dem im nächtlichen Wald nur die leuchtenden Augen zu sehen waren, so war sie irgendwo dort draußen, ein kurzer Lichtschimmer in der allumfassenden Finsternis.
Sie war irgendwo dort draußen.
Gottlos
Nach der Schlacht von Bullfinch hatte Madrigals Existenz – ihren Namen würde er erst zwei Jahre später erfahren – nach Akiva gerufen wie eine Stimme aus vollkommener Stille. Während er im Feldlarazett von Morwen mit dem Tod rang, träumte er immer und immer wieder, dass das Chimärenmädchen über ihm kniete und lächelte. Mit der Zeit erschienen ihm die Seraphim um ihn herum weniger real als das Mädchen, das seine Träume heimsuchte. Selbst als Liraz einen der Ärzte davon abhalten musste, seinen Arm zu amputieren, konnte er an nichts anderes denken als an den
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