Daughter of Smoke and Bone
nehmen. Ellai wehrte sich, aber er war der Sonnengott, und er glaubte, dass er ein Recht auf alles hatte, was er wollte. Ellai jedoch stach ihn mit dem Messer nieder und entkam, und sein Blut tropfte hinunter auf die Erde, funkengleich, und aus den Funkentropfen wurden die Seraphim – unrechtmäßige Kinder des Feuers. Wie ihr Vater, so glaubten auch sie, dass ihnen zustand, was sie wollten, dass ihnen das Recht gebührte, zu nehmen und zu besitzen.
Ellai aber berichtete ihrer Schwester von dem, was geschehen war, und Nitid weinte, und ihre Tränen fielen zur Erde und wurden Chimären, Kinder des Bedauerns.
Als der Sonnengott wieder zu den Schwestern zurückkehrte, wollte keine von beiden ihn haben. Nitid stellte sich vor Ellai und schützte sie, obgleich der noch immer Funken blutende Sonnengott wusste, dass Ellai nicht so wehrlos war, wie sie schien. Er flehte Nitid an, ihm zu verzeihen, aber sie blieb hart. Bis zum heutigen Tag folgt er nun den Mondschwestern über den Himmel, doch sosehr er es auch will, wird er niemals das besitzen, was er sich wünscht, und das wird seine Strafe sein in alle Ewigkeit.
Nitid ist die Gottheit der Tränen und des Lebens, der Jagd und des Krieges, und ihr sind unzählige Tempel geweiht. Sie ist es, die den Uterus fruchtbar macht, die das Herz der Sterbenden langsamer schlagen lässt und die ihre Kinder gegen die Seraphim führt. Ihr Licht ist wie das einer kleinen Sonne, sie verjagt die Schatten.
Ellai ist zurückhaltender. Sie ist eine Spur, ein Phantommond, und es gibt im Jahr nur eine Handvoll Nächte, in denen sie allein am Himmel steht. Das sind die Ellai-Nächte, und sie sind dunkel, aber voller Sterne und gut für alle Geheimnisse. Ellai ist die Göttin der Mörder und der heimlich Liebenden. Ihr gehören nur wenige, oft versteckt liegende Tempel, wie der im Requiem-Hain auf den Hügeln über Loramendi.
Dorthin führte Madrigal auch Akiva, als sie vom Ball des Kriegsherrn flohen.
***
Sie flogen. Er hielt seine Flügel verborgen, aber das hinderte ihn nicht zu fliegen. Über Land war der Requiem-Hain nicht zu erreichen, denn die Hügel waren zu zerklüftet. Zwar waren über manche Schluchten Seilbrücken gespannt worden – für die Anhänger der Mondgöttin, die in den Ellai-Nächten verhüllt zum Tempel wanderten, um ihr zu huldigen –, aber heute Nacht war niemand dort, und Madrigal wusste, dass sie den Tempel für sich alleine haben würden.
Und auch die Nacht gehörte ihnen. Nitid stand hoch am Himmel. Sie hatten noch Stunden vor sich.
»Das ist eure Schöpfungslegende?«, fragte Akiva ungläubig. Madrigal hatte ihm unterwegs auf dem Flug die Geschichte von der Sonne und Ellai erzählt. »Die Seraphim sind das Blut des Sonnengottes, eines Vergewaltigers?«
Unbekümmert gab Madrigal zurück: »Wenn dir das nicht passt, dann nimm es doch ruhig mit der Sonne auf.«
»Es ist eine schreckliche Geschichte. Was für eine brutale Phantasie die Chimären haben!«
»Nun ja, wir hatten ja auch genügend Inspiration.«
Sie erreichten das Wäldchen. Durch die Zweige sahen sie unter sich die silbernen Mosaike der Tempelkuppel schimmern.
»Hier«, sagte Madrigal, wurde langsamer und suchte eine Lücke zwischen den Baumkronen, um zu landen. Ihr ganzer Körper war durchdrungen von Nachtwind und Freiheit und gespannter Erwartung. Irgendwo lauerte auch die Angst vor dem, was später kommen würde – vor den Auswirkungen ihrer überstürzten Flucht. Aber als sie nun durch die Bäume glitt, hörte sie nur das Rauschen der Blätter, die Musik des Windes, und das allgegenwärtige
Hisch-hisch
der Evangelinen. Im Dunkel des Wäldchens schimmerten die Augen der Schlangenvögel, die den Nachtnektar der Requiem-Bäume tranken, silbern wie die Mosaike auf dem Tempeldach.
Sanft setzte Madrigal am Boden auf, und Akiva landete in einem Schwall Wärme neben ihr. Sie wandte sich ihm zu. Noch immer trugen sie ihre Masken. Natürlich hätten sie sie auf dem Flug ablegen können, aber Madrigal hatte an diesen Moment gedacht, wenn sie sich gegenüberstehen würden, und die Maske aufgelassen, weil in ihrer Phantasie Akiva ihr die Maske abnahm und sie ihm seine.
Anscheinend hatte er sich das Gleiche vorgestellt. Jetzt trat er auf sie zu.
Die wirkliche Welt, schon weit entfernt – nur ein Feuerwerksknistern am Horizont – verblasste endgültig, und in Madrigal breitete sich ein hoher, lieblicher Ton aus, als wäre sie eine Lautensaite. Langsam zog Akiva seine Handschuhe aus, ließ
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