Daughter of Smoke and Bone
die sie vor so langer Zeit gesprochen hatten, im Flüsterton, unter dem stillen, schützenden Zelt ihrer Flügel.
Zum ersten Mal seit er sie verloren hatte, konnte er Madrigals Gesicht nicht heraufbeschwören. Ein anderes Gesicht drängte sich dazwischen: das von Karou. Ihre Augen waren schwarz und verängstigt, und darin spiegelte sich das Lodern seiner Flügel wider, die hoch über ihr aufragten.
Er war
wirklich
ein Monster. Für die Dinge, die er getan hatte, gab es keine Absolution.
Akiva breitete seine Flügel aus und schwang sich in die Luft. Es war falsch, dass er hier an Karous Fenster war, eine lauernde Bedrohung, während sie so friedlich schlief. Er zog sich wieder auf die andere Straßenseite zurück, um selbst ein bisschen Schlaf zu finden, und als er endlich zu ihm kam, träumte Akiva, er wäre auf der anderen Seite des Fensters. Karou – nicht Madrigal, sondern
Karou
– lächelte ihn an und drückte ihre Lippen auf seine Fingerknöchel, einen nach dem anderen. Bei jedem Kuss verschwanden ein paar schwarze Linien, bis seine Hände rein waren.
Unschuldig.
»Es gibt andere Arten zu leben«, flüsterte sie, und er erwachte mit einem bitteren Geschmack im Mund, weil er wusste, dass es nicht stimmte. Es gab keine Hoffnung, nur die Axt des Henkers – und Rache. Es gab keinen Frieden. Niemals. Akiva presste die Handballen auf die Augen, während Frustration und Enttäuschung in ihm anschwollen wie ein Schrei.
Warum war er hergekommen? Und warum konnte er sich nicht dazu bringen, wieder zu gehen?
Leichtes Unbehagen
Am Samstagmorgen wachte Karou zum ersten Mal seit Wochen in ihrem eigenen Bett auf. Sie duschte, machte sich einen Kaffee, stöberte in der Vorratskammer nach etwas Essbarem, fand nichts und verließ ihr Apartment mit Zuzanas Geschenk in einer Einkaufstasche. Auf dem Weg schrieb sie ihrer Freundin eine SMS –
Hallihallo! Großer Tag heute. Ich bringe Frühstück mit.
– und kaufte ein paar Croissants in der Bäckerei an der Ecke.
Kurz darauf kam eine SMS zurück –
Wenn es keine Schokolade ist, ist es kein Frühstück.
–, und Karou lächelte und machte kehrt, um noch Schoko-Kolatschen zu besorgen, eine tschechische Spezialität.
Als sie sich umdrehte, spürte sie plötzlich, dass etwas nicht stimmte. Nur ein leichtes Gefühl von
Falschheit
, aber es reichte aus, dass sie stehen blieb und sich umsah. Sie erinnerte sich daran, wie Bain gesagt hatte, sie würde von nun an als Gejagte leben und sich immer fragen, wer gerade hinter ihr her war, und bei dem Gedanken sträubten sich ihre Nackenhaare. Ihr Messer war in ihrem Stiefel, und der kalte Stahl an ihrem Knöchel beruhigte sie.
Sie holte Zuzanas Kolatschen und ging wachsam weiter. Sie hielt die Schultern angespannt und blickte einige Male zurück, sah aber nichts Ungewöhnliches. Bald darauf erreichte sie die Karlsbrücke.
Das Wahrzeichen von Prag überspannte die Moldau zwischen Altstadt und Kleinseite. Gotische Brückentürme ragten auf beiden Seiten auf, und über die ganze Länge – nur für Fußgänger – standen in regelmäßigen Abständen monumentale Heiligenstatuen. Zu so früher Stunde war die Brücke fast menschenleer, und unter dem schrägen Einfall der jungen Sonne warfen die Skulpturen lange, schmale Schatten. Händler und Straßenkünstler kamen mit Handkarren an, um sich einen Platz auf dem begehrtesten Forum der Stadt zu sichern, und direkt in der Mitte, vor dem bildschönen Hintergrund der Prager Burg, war der riesige Puppenspieler.
»O mein Gott, das ist ja umwerfend«, sagte Karou, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem, denn da saß der Puppenspieler, gut drei Meter groß, düster und bedrohlich, mit seinem harten, geschnitzten Gesicht und den hölzernen Händen so groß wie Schneeschaufeln. Karou spähte hinter ihn – er war in einen gewaltigen Regenmantel gekleidet –, aber auch dort war niemand. »Hallo?«, rief sie, überrascht, dass Zuzana ihre Kreation unbeaufsichtigt ließ.
Aber dann schallte es »Karou!« aus dem
Inneren
des Riesen, der Saum des Regenmantels teilte sich an der Rückseite wie die Öffnung eines Zeltes, und Zuzana sprang heraus.
Sofort schnappte sie sich die Gebäcktüte. »Gott sei Dank«, seufzte sie und langte zu.
»Ich freue mich auch, dich zu sehen.«
»Mmpf.«
Jetzt tauchte auch Mik hinter ihr auf und umarmte Karou zur Begrüßung. »Ich spiele mal den Dolmetscher«, sagte er. »In Zuzanas Sprache hieß das so viel wie: danke.«
»Wirklich?«, fragte
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