Daughter of Smoke and Bone
verabschieden und noch einmal ein bisschen Normalität zu tanken – zum letzten Mal in absehbarer Zukunft.
Außerdem wollte sie sich auf gar keinen Fall Zuzanas Puppentheater entgehen lassen.
Niemals Frieden
Freitagnacht kam Karou in Prag an. Sie gab dem Taxifahrer ihre Adresse, doch als sie sich ihrem Viertel näherten, überlegte sie es sich anders und bat ihn, sie in Josefov herauszulassen, nahe dem alten jüdischen Friedhof. Es war der unheimlichste Ort, den sie kannte. Die Grabhügel bedeckten die Toten vieler Jahrhunderte, und Krähen hatten sich in den knorrigen Ästen eingenistet, die sich wie Hexenfinger nach den Gräbern auszustrecken schienen. Sie liebte es, hier zu zeichnen, aber zu dieser Zeit war der Friedhof natürlich geschlossen, und er war auch nicht ihr Ziel. Sie ging an seiner schiefen Außenmauer entlang, fühlte das Gewicht seiner Stille und kam schließlich bei Brimstones Portal an. Oder dort, wo sein Portal einmal gewesen war.
Eine Weile stand sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite und versuchte sich dazu zu bringen, die wenigen Schritte zu gehen und anzuklopfen. Vielleicht würde sich die Tür einfach öffnen. Vielleicht würde sie sich öffnen, und Issa würde mit einem leicht gereizten Lächeln im Gesicht dastehen. »Brimstone hat schlechte Laune«, würde sie sagen. »Bist du sicher, dass du reinkommen willst?«
Als wäre alles nur ein dummes Versehen gewesen. War das nicht immer noch möglich?
Schließlich überquerte sie die Straße. Mit hoffnungsvoll klopfendem Herzen hob sie die Hand und klopfte dreimal schnell hintereinander. Dann ließ sie die Hand sinken, und die Hoffnung wurde so übermächtig, dass sie schmerzte. Karou atmete tief ein und hielt die Luft an, während ihr Herz sein
»bitte bitte bitte«
pochte und ihr Tränen in die Augen schossen. Sie würde heulen, egal, ob die Tür sich öffnete oder nicht. Die Frage war nur, ob es Tränen der Enttäuschung oder der Erleichterung sein würden.
Stille.
Bitte bitte bitte.
Aber nichts geschah.
Die Tränen kullerten über ihre Wangen, und sie seufzte abgrundtief. Aber sie wartete weiter, lange Minuten, die Arme gegen die Kälte um sich geschlungen, bevor sie schließlich aufgab und nach Hause ging.
***
In jener Nacht sah Akiva ihr beim Schlafen zu. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, beide Hände hatte sie unter die Wange geschoben wie ein Kind, ihr Atem ging regelmäßig und tief.
Sie ist unschuldig
, hatte Izîl behauptet. Im Schlaf sah sie tatsächlich so aus. Aber war sie es wirklich?
In den letzten Monaten hatte ihn die Erinnerung an dieses Mädchen verfolgt, sie war ihm schmerzhaft ins Gedächtnis eingebrannt – wie sie, in seinem Schatten kauernd, in Todesangst ihr hübsches Gesicht zu ihm emporgewandt hatte. Immer und immer wieder traf ihn der Gedanke wie ein Schlag, dass er kurz davor gewesen war, sie umzubringen. Und was hatte ihn aufgehalten?
Irgendetwas an ihr hatte die Erinnerung an ein anderes Mädchen heraufbeschworen, eine längst verlorene Erinnerung. Aber was? Es waren nicht ihre Augen. Sie waren nicht braun und warm wie die Erde; sie waren schwarz – schwarz wie die Augen eines Schwans, ein starker Kontrast zu ihrer hellen Haut. In ihren Gesichtszügen konnte er keinerlei Ähnlichkeit zu jenem anderen Gesicht erkennen, jenem geliebten Gesicht, das er zum ersten Mal durch den Nebel gesehen hatte, vor so langer Zeit. Beide waren schön, das war alles, aber irgendetwas in ihm hatte die Verbindung hergestellt und ihn innehalten lassen.
Endlich wurde es ihm klar. Es war eine Bewegung gewesen: die Weise, wie sie den Kopf schräg gelegt hatte, vogelartig, um ihn anzusehen. Das hatte sie gerettet. Diese winzige Geste.
Und als er nun auf ihrem Balkon stand und sie durchs Fenster beobachtete, fragte er sich:
Was jetzt?
Ungebeten überkamen ihn Erinnerungen an das letzte Mal, dass er jemandem beim Schlafen zugesehen hatte. Damals hatte ihn keine von seinem Atem beschlagene Glaswand von ihr getrennt; er hatte nicht von außen hineingesehen, sondern warm und wohlig neben Madrigal gelegen. Auf einen Ellbogen gestützt, hatte er sich auf die Probe gestellt, wie lange er so daliegen konnte, ohne die Hand nach ihr auszustrecken.
Nicht einmal eine Minute. In seinen Fingerspitzen war ein Schmerz, den er nur lindern konnte, indem er sie berührte.
Damals waren viel weniger Linien auf seinen Händen gewesen, doch ganz frei von Todesmalen waren sie nicht. Madrigal hatte seine gebrandmarkten Finger
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