Dave Duncan
die anderen anwesenden Herrschaften zu stören, die in den umliegenden Stühlen lagerten.
Vielleicht waren die Schneider mit den Kleidern für den Frühlingsball gekommen. Belustigt beobachtete Inos, wie der junge Mann dieses Problem wohl lösen würde. In Liebesromanen war der korrekte Weg dazu ein Kuß; würde er das jedoch in der Bibliothek von Kinvale versuchen, würde er sich bald dem brennenden Atem der Drachenwitwe selbst gegenübersehen.
Selbst in dem Alter, dachte sie, hätte Andor den Kuß gewagt und wäre damit durchgekommen.
Der Junge sah sich hektisch im Zimmer um, und seine Augen trafen die ihren. Sie hatte Mitleid mit ihm und nickte ihm zu.
So wie Andor Mitleid mit ihr gehabt hatte. Andor hatte ihr gezeigt, worauf sie bei einem Bewerber achten mußte – und das vielleicht absichtlich, obwohl er dadurch ihre Ansprüche so hoch geschraubt hatte, daß sie vielleicht niemals befriedigt werden konnten. Der Felsen von Krasnegar war wie ein Grabstein. Einem Mann wie Andor stand ganz Pandemia zur Verfügung, und er brauchte sein Leben nicht in der Ödnis zu verschwenden. Eine Prinzessin hatte Aufgaben und Verpflichtungen. Sie mußte ihre Tage auf dem Felsen verbringen, aber jemanden zu bitten, dasselbe zu tun, nur um ihretwillen… Zum tausendsten Mal grübelte sie über die ironische Wahrheit nach, daß einer Prinzessin so manche Freiheiten fehlten, die ein gewöhnlicher Leibeigener als selbstverständlich erachtete.
Der Lakai trat vor sie hin und verbeugte sich. Sie glaubte, er sei jener Gavor, über den ihre bevorzugte Coiffeuse immer sprach, und wenn nur die Hälfte der Geschichten über ihn stimmte, dann war er ein toller Bursche. Aber jetzt zeigte er nichts weiter als ein höfliches, fragendes Lächeln in einem jungenhaft erröteten Gesicht.
Inos widerstand der Versuchung, ihn aufzufordern, Kade mit einem Kuß zu wecken. Sie hatte inzwischen gelernt, daß übermäßige Vertrautheit Angestellte nur verlegen machte; ihr Leben war einfacher, wenn ihre Position genau abgegrenzt war. »Ihr könnt mir die Nachricht übermitteln, und ich sorge dafür, daß die Prinzessin sie erhält«, sagte sie.
Gavor, falls er so hieß, versuchte nicht, seine Erleichterung zu verbergen. »Das ist sehr freundlich von Euch, Ma’am! Ihre Hoheit bittet Euch und Eure Tante, zu ihr zu kommen, falls es Euch keine Umstände bereitet.«
Nicht die Ballkleider! Inos schlug das Buch mit einem Knall zu, der die Hälfte der dösenden Herrschaften aufweckte, und sie warf dem dummen Jungen einen Blick zu, der ihn bis zu den Ohren erröten ließ. Er hätte direkt zu ihr kommen sollen, anstatt vor Tante Kade herumzuzappeln – manchmal schien ihnen sogar das Hirn zu fehlen, mit dem sie geboren worden waren! Doch sie erhob sich ruhig und sagte nur »Danke.« Sie ging zu Tante Kade hinüber. Es gefiel Ekka nicht, warten zu müssen, und Inos mußte sicher noch auf ihr Zimmer, um ihr Haar zu bürsten. Das Gemach der Herzoginwitwe – das Inos für das Unheiligtum schlechthin hielt – war ein Tribut an den unvergleichlichen Geschmack ihres Sohnes. Es war gleichzeitig groß und hell, imposant und intim. In weiß, gold und puderblau trug es das Flair von Erhabenheit und das Glitzern von Pomp, doch nichts davon wirkte aufdringlich. Die Wände waren mit Seide verkleidet und mit weißen Stuckornamenten, die Möbel leuchteten in weißem Lack mit vergoldeten Verzierungen. Wolken aus duftiger Spitze hingen vor den Fenstern, wenngleich dieses Detail Inos immer an ein Spinnennetz erinnerte. Ein fröhliches Knistern im Kamin übertönte den Regen, hielt den Raum angenehm warm und tat den alten Knochen wohl.
Als sie hinter ihrer Tante durch die Tür trat, sah Inos zunächst Ekka. Aufrecht und mit herrischem Blick saß sie auf einem der Stühle mit hoher Lehne, die sie bevorzugte. Die Füße hatte sie fest zusammengedrückt auf einen Schemel gestellt. Ihr Stuhl war höher als alle anderen, so daß sie wie auf einem Thron alle überragte. Ihre Hand, auf der dunkle Venen hervortraten, ruhte auf ihrem Stock, der genau vertikal an ihrer Seite stand. Sie trug ein hochgeschlossenes, langärmeliges Kleid aus glänzendem, elfenbeinfarbenem Satin, und ihr weißes Haar lag so makellos wie polierter Marmor und wollte nicht recht zu ihrem runzligen Gesicht passen, das wie eine verwitterte Walnuß aussah.
Weitere Stühle waren vor ihr im Halbkreis aufgestellt. Aus einem erhob sich soeben der wohlbeleibte Herzog, untadelig in Wasserblau. Er sah verwirrt und
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