Davina
verstand. Schon nach wenigen Minuten in der Wohnung war er sicher, daß sein Chef die Nacht nicht dort zugebracht hatte. Erstaunlicherweise lagen Rasierapparat und Zahnbürste im Badezimmer, und sein Morgenmantel hing hinter der Tür. Auch die Sachen des Kammerdieners Juri waren noch in dessen Zimmer. Er fuhr ins Büro zurück und hatte ein ungutes Gefühl. Der Wagen des Generals stand nicht in der Garage. Er hatte gestern nachmittag sein Arbeitszimmer vorzeitig verlassen und seither nicht mehr angerufen. Tatitschew ließ seinen Sekretär holen, und glücklicherweise wurde der junge Mann zu Hause angetroffen, wo er einen langen Tag mit seiner Freundin im Bett verbrachte. Er erschien kurz nach halb zwei im Büro und wirkte sehr nervös. Er hat Angst, dachte Tatitschew; ich auch. Wir alle haben Angst, einen Fehler zu begehen. Er betrachtete den Sekretär, dessen Adamsapfel in seiner Kehle auf- und niederging, als versuchte er zu schlucken.
»Sie sagen, der Genosse General sei am Nachmittag vorzeitig weggefahren?«
»Ja, Genosse Major. Etwa um drei Uhr.«
»Und er hat nicht gesagt, wohin er fahren wollte? Nein, ich verstehe … Hat er durchblicken lassen, daß er noch einmal zurückkommen oder aufs Land fahren wollte? Sie glauben, nein. Hmm. Er hatte keinen Termin an diesem Nachmittag. Er hat einfach das Büro verlassen?«
Der Sekretär schluckte nervös. Tatitschew begann sich zu ärgern.
»Ich glaube, es kam ein Telefonanruf«, sagte der junge Mann unsicher. Er wagte nie, mit irgend jemandem über das Privatleben seines Vorgesetzten zu sprechen, auch nicht mit dem Mädchen, mit dem er zusammenlebte. Er hätte kein Wort über den Anruf verlauten lassen, wenn der Major nicht so mißtrauisch geworden wäre.
»Was für ein Anruf?« schrie ihn Tatitschew an. »Sie Idiot! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Wer hat ihn angerufen?«
»Ich möchte nicht darüber sprechen«, stammelte der Sekretär. »Es war ein Privatgespräch. Dem General wäre es bestimmt nicht recht, wenn ich …«
»Der General ist vermisst!« brüllte Tatitschew. »Ich übernehme die volle Verantwortung. Wer hat ihn angerufen?«
»Ein Mädchen«, sagte der Sekretär. »Er hat mir einmal eine Nummer genannt, die ich anrufen sollte, wenn er dort sei und in einem Notfall gebraucht würde. Ich habe sie bis jetzt nie benutzt.«
Während Tatitschew die Nummer anrief und das Telefon in Irinas Wohnung klingelte, ohne daß sich jemand meldete, wurde die Adresse festgestellt. Etwa zum selben Zeitpunkt hatte die Verkehrspolizei schweren Herzens beschlossen, etwas mit dem Auto zu unternehmen, das ein Nummernschild des KGB trug und eine Nebenstraße beim Flugplatz Somojonow blockierte. Ihr Anruf beim Fuhrpark in der Dserschinsky-Straße erreichte Tatitschew nicht mehr. Er stand bereits vor der Eingangstür zu Irina Sasonowas Wohnung und machte der Hausmeisterin die Hölle heiß, weil diese mit dem Hauptschlüssel nicht umzugehen verstand.
Sobald er eintrat, wußte er sofort, daß die Wohnung nicht leer war. Eine schwere Stille lastete auf dem Raum; er kannte sie, denn er hatte in seinem Leben schon viele Tote gesehen. Er hatte zwei Beamte des Sicherheitsdienstes mitgebracht. Er hörte, wie einer von ihnen ihm aus der Küche etwas zurief, als er selbst gerade die Schlafzimmertür aufbrach und die Umrisse eines Leichnams sah, der mit einem blutgetränkten Laken zugedeckt war. General Antoni Wolkows Uniform lag, ordentlich zusammengelegt, auf einem Stuhl, und seine Stiefel standen wie Wachtposten darunter. Eine Stunde später, als die Sicherheitspolizei das Gebäude und die Straße abgeriegelt hatte, wurden die beiden Toten durch den Hintereingang abtransportiert; Tatitschew durchsuchte die Taschen des Generals und fand den Schlüssel, der den Safe öffnete, wo die Dechiffrierunterlagen aufbewahrt waren.
»Bleibt noch ein bißchen im Garten sitzen«, sagte Harrington zu Irina. »Ich gehe hinauf und sehe nach, ob es ihr wieder gut geht.«
»Sie war wirklich sehr blaß«, meinte Poliakow. »Hoffentlich hat sie sich nicht irgendeine Krankheit geholt.«
»Bloß Reisefieber«, gab Harrington zurück. Keiner lachte. Blöde Banausen, murmelte er vor sich hin, als er wegging. Russen hatten keinen Sinn für Scherze. Aber auch er selbst besaß im Augenblick keinen besonderen Sinn für Humor.
Außer Sichtweite verhärtete sich sein Gesichtsausdruck. Er begab sich zum Empfang und ging um ihn herum auf die andere Seite. Er sprach rasch und sehr leise auf die
Weitere Kostenlose Bücher