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Davina

Titel: Davina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Evelyn
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unsere Wohnung an der Newski-Straße, und dann saßen wir alle beieinander, aßen und tranken und redeten die ganze Nacht. Ich mußte heute abend daran denken, als ich im Kreis deiner Familie saß. Es war so ganz anders, so ruhig und förmlich, wie im Theater. Ich habe versucht, dir im Garten zu erklären, wie andersartig das alles ist. In meiner Wohnung haben wir einen großen Tisch in der Küche. Dort leben wir. Unser Samowar steht wie ein Gott in der Mitte des Tisches. Essen und Tee und Wodka sind immer da, auch Wein. Wenn unsere Freunde kommen, sitzen wir alle am Tisch um den Samowar herum. Ich habe eine sehr schöne Wohnung mit drei Schlafzimmern, außerdem eine Datscha draußen in Schukowa. Aber wir wohnen und essen und freuen uns in dem Raum mit dem Samowar. Er ist die Seele des russischen Heims. Du würdest eine solche Gesellschaft sehr laut finden. Alle reden durcheinander. Es ist der Platz, wo die Menschen ihre Gedanken laut aussprechen können. In Restaurants oder auf der Straße ist das nicht möglich. Man muß vorsichtig sein.«
    Ich habe es geschafft, dachte sie bei sich, ich habe den Durchbruch geschafft … Er redet jetzt wirklich mit mir. »Aber Belezky fühlte sich bei dir in Sicherheit«, murmelte sie.
    »Ja, er vertraute mir. Er wollte mich verändern, deshalb ging er das Risiko ein.«
    »Wie wollte er dich verändern?«
    »Er wollte mich unser Leben durch seine Brille sehen lassen. Wir blieben ganze Nächte auf und stritten uns über so viele Dinge. Die Rechte des einzelnen. Er sagte immer, wie wesentlich sie seien … die Freiheiten nannte er sie. Die Freiheit der Gottesverehrung, wenn man an einen Gott glaubt. Die Redefreiheit, die Freiheit zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Die Freiheit, Arbeit anzunehmen oder den Arbeitsplatz zu wechseln, wenn man will.«
    »Und was hast du gesagt?« fragte sie. »Was hast du ihm geantwortet?«
    »Ich sagte ihm die Wahrheit«, erwiderte Sasonow. »Diese Freiheiten seien für Russen unmöglich. Das Sowjetsystem könne ohne Kontrollen nicht funktionieren. Ich glaube, ich habe ihn damals überzeugt. Die freie Wahl des Arbeitsplatzes bedeutet Arbeitslosigkeit für einen anderen Berufstätigen. Die Religion pervertiert die Gedanken der Jugend und lehrt sie Aberglauben. Frei reden und schreiben und lesen können, bedeutet, daß unser Volk der ausländischen Propaganda ausgesetzt wird, daß subversive Kräfte den Staat unterminieren können. Außerdem sind wir, wie ich im Garten sagte, nie in dem Sinne frei gewesen, der dir vorschwebt.« Er hob die Arme über den Kopf und reckte sich. Er legte seinen rechten Arm um ihre Schulter.
    »Wir brauchen einen Tyrannen«, sagte er langsam. »Einen Zaren, einen Stalin. Wir brauchen den Schutz durch einen starken Mann. Dann können wir notfalls Mittel und Wege finden, um die Gesetze zu umgehen. Jacob konnte das nicht hinnehmen.«
    »Ich finde es auch schwierig«, meinte Davina. »Schwer zu glauben, daß du diesen Standpunkt akzeptierst.«
    »Aber ich tat es«, gab er zurück. »Ich war Teil der Gewaltherrschaft, ich trug dazu bei, sie aufrechtzuerhalten. Jacob bezog alles auf den Menschen. Auf sich selbst und seine Frau und ihre gemeinsamen Freunde, die ebenso dachten.«
    »Nach dem, was du da sagst«, meinte sie, »hättest du ihn anzeigen müssen.«
    Er sagte etwas auf russisch, das wie ein Fluch klang.
    »Ich redete auf ihn ein, er solle den Mund halten! Er habe alles, was er sich wünschte – eine führende Stellung in der Weltraumforschung, eine Frau, die er liebte, ein gutes Gehalt –, er werde bald eine Datscha haben, sagte ich ihm. Was gehe ihn alles andere an? Warum genieße er nicht das Leben? Er wollte nicht auf mich hören. Er besaß jene jüdische Seele, die nicht zufrieden ist, wenn sie nicht leidet. Und dann stellte er den Antrag, nach Israel auswandern zu können. Das wurde ihm natürlich abgeschlagen. Er mußte gewußt haben, daß er zu wichtig war, um die Genehmigung zum Verlassen des Landes zu bekommen. Er provozierte die Behörden. Er erklärte, er sei kein freier Mann. Und er fing an, diese Dinge auch in der Öffentlichkeit auszusprechen. Er wurde aus seiner Stellung entlassen; sie mußten ihre Wohnung räumen. Jacob konnte keine Stellung mehr finden, außer als schlecht bezahlter Hilfsarbeiter. Alle mieden ihn.«
    »Du auch?« fragte Davina leise. Die Vorgänge, die er beschrieb, waren ihr hinlänglich bekannt.
    »Er war mein Freund«, sagte Sasonow ärgerlich. »Ich konnte ihn auch weiterhin

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