Davina
es?« fragte sie flüsternd.
»Ich weiß es nicht«, sagte Poliakow. »Ich weiß nur, daß er den Beweis enthält, daß ihr Vater lebt. Geben Sie den Umschlag Ihrer Mutter, und wenn sie etwas zu sagen hat, schreiben Sie in Ihre nächste Arbeit den Satz: ›Lenin war der Hohepriester für die Religion des Proletariats.‹ Können Sie sich das merken?«
Sie wiederholte den Satz.
»Es hat so wenig Sinn, daß ich Ihnen deswegen einige Fragen stellen kann«, sagte er. »Wenn Ihre Mutter gar nicht reagiert, dann schreiben Sie: ›Lenin war der Vorkämpfer des Proletariats.‹ Haben Sie verstanden?«
»Ich habe verstanden«, murmelte sie. Poliakows Handlungsweise hatte zwei Gründe: erstens hatte er Mitleid mit ihrer schwierigen Lage, und zweitens hatte er ihr Erröten richtig gedeutet. Er küßte sie leicht auf die Wange. Er erkannte aus ihrem Blick, daß sie sich gegenseitig zum Schweigen verpflichtet hatten.
»Vernichten Sie alles, was es auch sein mag. Hinterlassen Sie keine Spuren.«
Sie nickte und eilte aus dem Vorlesungsraum.
Eine Kommilitonin, eine der wenigen Studentinnen, die in diesen Tagen noch freundschaftlich mit ihr sprach, lächelte und sagte: »Ich glaube, er ist in dich verliebt, Irina. Er befasst sich mehr mit dir als mit allen anderen.« Als Irina tief errötete, lachte sie laut und ging ihres Weges.
Das war vor drei Tagen geschehen, und noch immer hatte Irina den Umschlag nicht ihrer Mutter übergeben. Sie hatte ihn geöffnet und das unverständliche Bild eines Sonnenaufgangs hinter einem Kreis riesiger Steinblöcke gesehen. Sofort hatte sie die Handschrift ihres Vaters auf der Rückseite erkannt. Und sie hatte die Botschaft gelesen: »Die Sonne ist für uns schon einmal aufgegangen, Fedja. Komm zu mir, und sie wird wieder aufgehen. Dein Mann Iwan, der dich liebt.« Sie hatte nicht getan, was Poliakow ihr aufgetragen hatte; sie hatte die Karte nicht ihrer Mutter gegeben, und sie hatte sie auch nicht vernichtet. Sie hatte die Karte im Umschlag in ihrem Büstenhalter versteckt, und instinktiv hatte sie bis zur Teestunde am Nachmittag gewartet. Es war etwas Unnatürliches an ihrer Mutter, als ob die Beerdigung ihre Ängste beseitigt hätte. Sie schlief besser und schien, wenn auch in Grenzen, etwas heiterer geworden zu sein. Irina war gar nicht wohl zumute.
»Mutter?«
Fedja sah zu ihr auf. »Ja, Liebes?«
»Leidest du noch immer unter dem Schicksal, das Vater getroffen hat?«
»Aber natürlich! Warum stellst du eine so merkwürdige Frage? Glaubst du etwa, ich vermißte ihn nicht mehr, wo ich doch erst vor einer Woche neben seiner Leiche gestanden habe?«
Als Irina schwieg, fügte sie hinzu: »Ich kann nicht ewig nur weinen. Und du hast dein eigenes Leben noch vor dir. Vielleicht sehen die Behörden jetzt ein, daß wir nichts Unrechtes getan haben. Er ist nicht übergelaufen; er hat einen Zusammenbruch erlitten und sich umgebracht. Dafür kann man uns nicht verantwortlich machen.«
»Dann bist du also eigentlich froh, daß er tot ist«, sagte ihre Tochter mit tonloser Stimme.
»Nein, nein, wie könnte ich denn froh darüber sein«, protestierte Fedja. »Ich habe ihn sehr geliebt, das weißt du – und du weißt auch, wie nahe ihm Belezkys Tod gegangen ist.« Unwillkürlich sprach sie jetzt langsam und ruhig. »Aber so, wie jetzt alles gekommen ist, ist es besser für uns. Besser für dich.«
»Du hast seinen Leichnam identifiziert«, sagte Irina. »Sag mir die Wahrheit, Mutter. War er es wirklich?«
Fedja zögerte. Sie merkte ihrer Tochter eine merkwürdige, innere Spannung an … Warum plötzlich alle diese Fragen, warum diese letzte, besonders gefährliche Frage? Ein wilder Verdacht schoß ihr plötzlich durch den Kopf. Schon früher waren Kinder als Nachrichtenspitzel auf ihre Eltern angesetzt worden. Doch dann behielt die Vernunft die Oberhand, und ihr schauderte bei dem Gedanken, was die Angst auch der engsten Beziehung antun konnte. Gott mochte ihr verzeihen, daß sie, wenn auch nur einen kurzen Augenblick lang, so etwas von ihrem Kind gedacht hatte.
»Nein, Liebling«, sagte sie sanft. »Es war nicht dein Vater. Aber Wolkow glaubt, er sei es gewesen. Sein Verschwinden hat eine Erklärung gefunden – du hast die Bilder in der ›Prawda‹ und die Meldungen gelesen. Wir sind jetzt in Sicherheit, jedenfalls so lange, wie wir die ganze Sache vergessen. Wir müssen ihn ebenfalls für tot halten.«
Langsam zog Irina den Umschlag aus ihrem Kleid und legte ihn auf die
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