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"Davon haben wir nichts gewusst!"

"Davon haben wir nichts gewusst!"

Titel: "Davon haben wir nichts gewusst!" Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Longerich
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persönliche Besitz der Deportierten versteigert wurde, zeigen, dass große Teile der Bevölkerung über das »Verschwinden« der Juden informiert waren. 157 Frank Bajohr geht beispielsweise in seiner Studie über Hamburg von rund 100 000 Nutznießern jüdischen Eigentums in Hamburg und der unmittelbaren Umgebung aus. 158
    Hinzu kam das große Interesse an den verlassenen Wohnungen der Deportierten. Die NSDAP-Kreisleitung Göttingen etwa berichtete im Dezember 1941, die »Absicht, die Juden in nächster Zeit von Göttingen abzutransportieren«, sei »in der Bevölkerung bereits bekannt« geworden; als Folge werde die Kreisleitung wegen Anträgen auf Zuweisung der verlassenen Wohnungen regelrecht »überlaufen«. 159 Das Motiv, materielle Vorteile aus den Deportationen ziehen zu können, müssen wir ebenfalls als einen Faktor in Rechnung stellen, der gegen die These von der »Indifferenz« der Bevölkerung angesichts der Deportationen spricht.
    Die Deportationen waren so offensichtlich, dass auch ausländische Besucher keine große Mühe hatten, in den Besitz von Informationen über die Verschleppungen zu gelangen. Der britische Botschafter in Stockholm berichtete zum Beispiel im November 1941 über ein Gespräch mit dem gerade von einer Reise nach Deutschland zurückgekehrtem Jacob Wallenberg. Dieser habe den Eindruck gewonnen, dass viele Deutsche »angewidert seien über die Art und Weise, in der Juden von deutschen Städten in Ghettos in Polen deportiert werden würden«. 160
    Der ehemalige Sekretär der US-Handelskammer in Frankfurt, van d’Elden, der seit 1925 in Deutschland gelebt hatte, dort Ende 1941 interniert, aus Krankheitsgründen im Februar 1942 aber wieder entlassen worden war und sich bis zu seiner Abschiebung im Mai 1942 weitgehend ungehindert in Frankfurt bewegen konnte, berichtete nach seiner Rückkehr aus Deutschland, die Behörden hätten im Oktober 1941 ein »systematisches Programm der Deportation von Juden aus Frankfurt nach Lodz« begonnen. 161
    Die weiteren Ausführungen des Amerikaners offenbaren, in welchem Umfang er weitgehend zutreffende Einzelheiten über die Transporte in Erfahrung gebracht hatte. 162 Insgesamt seien bisher fünf Deportationszüge in polnische Ghettos abgefahren. Nur ein Zug habe sein Bestimmungsziel – Lodz – erreicht; die Insassen dreier weiterer Züge seien gezwungen worden, die Züge auf freier Strecke, irgendwo in Polen, zu verlassen, und seien an Ort und Stelle erschossen worden. Diese Information sei von aus Polen zurückkehrenden deutschen Soldaten, die selbst an den Exekutionen teilgenommen hätten, bestätigt worden. Über den fünften Transport könne er, so van d’Elden weiter, wegen seiner Abreise aus Frankfurt nichts sagen.
    Das Un-Thema Deportationen, das machen all diese Berichte deutlich, wurde also durchaus wahrgenommen und in der Bevölkerung diskutiert. Über die Reaktionen lässt sich kein einheitliches Bild gewinnen, doch haben wir genügend Anhaltspunkte dafür, dass die Deportationen in der Bevölkerung kontrovers erörtert wurden. Gleichwohl zeigte das im Oktober verfügte absolute Kontaktverbot zu Juden, gekoppelt mit der erneuten antisemitischen Propagandakampagne, Wirkung. Waren ostentative Gesten der Hilfsbereitschaft gegenüber den gekennzeichneten Juden im September noch möglich gewesen, so war das Regime im Herbst 1941 dazu übergegangen, solche Gesten massiv zu unterdrücken. Und das öffentliche Verhalten der Menschen scheint sich tatsächlich geändert und entsprechend den Vorgaben des Regimes ausgerichtet zu haben.

Die »Endlösung« als öffentliches Geheimnis

Die »Judenfrage« in der deutschen Propaganda 1942
    Im Jahre 1942 kam Hitler mehrfach und in viel beachteten Reden auf seine »Prophezeiung« vom 30. Januar 1939 zurück. Um die seinerzeitige Drohung zu unterstreichen, datierte er die Rede immer wieder auf den Kriegsanfang 1939; außerdem verschärfte er seine Rhetorik, in dem er nicht mehr von der »Vernichtung« der Juden sprach, sondern das noch schärfere Wort »ausrotten« benutzte. Entsprechend äußerte er sich in seinem Neujahrsaufruf zu Beginn des Jahres 1942, 1 in seiner Ansprache im Sportpalast zum 30. Januar 1942, 2 in der Erklärung aus Anlass der Parteigründungsfeier am 24. Februar 1942, 3 während seiner Rede im Sportpalast am 30. September 4 sowie bei der Ansprache zur Gedenkfeier in München am Vorabend des 9. November 1942; 5 am 24. Februar 1943 erinnerte er erneut an seine Drohung. 6 Aber auch in

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