Days of Blood and Starlight
allein über die Brücke hätte führen sollen, seine Pflicht erfüllt hätte. So stark seine Loyalität dem Imperator gegenüber auch war, gab es stärkere Impulse in seinem Inneren – wie den Drang, die Hilflosen zu beschützen.
Du Narr, Nevo , schalt er sich. Manch einer behauptete, die Magi des Imperators könnten Gedanken lesen, und er hoffte sehr, dass das nicht stimmte, denn in diesem einen kurzen Moment waren dermaßen lächerliche Visionen durch seinen Kopf geschossen: wie er das Mädchen rettete, wie er sie an einen sicheren Ort brachte. Bei den Göttersternen, er malte sich sogar eine hübsche Wohnstätte aus, einen kleinen grünen Garten und einen großen blauen Himmel, in den weit und breit keine Turmspitzen ragten – kein Turm der Eroberung, kein Astrae, kein Imperium. Nur ein kleiner, sicherer Ort, und er selbst ein Held in den Augen eines unbekannten, gesichtslosen Mädchens.
Und das alles nur wegen eines flüchtigen Blicks auf einen Fuß?
Das war einfach nur erbärmlich. Vielleicht hatten seine Zimmergenossen ja doch recht, wenn sie Nevo rieten, sich im Freudenhaus der Soldaten ein bisschen »Zuneigung« zu besorgen. Er nahm sich vor, bald einmal hinzugehen, und festigte den Beschluss, während er marschierte. Die Eskorte war in zwei Dreiergruppen eingeteilt, mit dem Mädchen in der Mitte, so dass Nevo direkt hinter ihr ging und seine Schritte an ihren langsamen, zögerlichen Gang anpassen musste. Sie sah so klein aus – umgeben von den riesigen Wachmännern taten sie das alle. Er konnte ihren unregelmäßigen Atem hören – das Luftschnappen drohender Hysterie – und er konnte die Hitze fühlen, die von ihren verhüllten Flügeln aufstieg.
Ihr Parfüm roch so zart, dass es fast ihr natürlicher Duft hätte sein können.
Unwillkürlich fragte Nevo sich, welche Farbe ihre Haare wohl hatte und ihre Augen.
Hör auf. Das wirst du nie erfahren.
Der Marsch über den Glasbogen war kurz; als sie ihn betraten, öffnete sich der Blick auf Astrae unter ihren Füßen, und schloss sich wieder, als sie das andere Ende erreichten. Das Mädchen wurde abgeliefert. Ein Seneschall erwartete sie am Alef-Tor, und sie ging hinein und verschwand ohne einen Blick auf ihre Eskorte.
Absurderweise versetzte ihm das einen Stich. Als hätte sie ihn bemerken und irgendwie verstehen müssen, dass er Mitgefühl für sie empfand.
Nevo wusste, dass er in der Uniform der Imperiumswache genauso anonym für sie war, wie sie für ihn hätte sein sollen, aber der Gedanke machte ihn rastlos und wütend. Er hatte sich selbst verloren – an eine Uniform! An dieses glänzend silberne Kostüm einer Rüstung mit seinem aufgebauschten Federschmuck und seinen überlangen Glockenärmeln, die reibungsloses Schwertziehen verhindert hätten, wenn er sein Schwert jemals hätte ziehen müssen, was nie vorkam, außer im Training, aber selbst das erinnerte eher an Tanzstunden als an Kampf. Die Silberschwerter waren nicht, was er gedacht hatte, als er aus den Reihen der Bauernarmee auserwählt worden war, sich ihnen anzuschließen – nicht etwa wegen seiner Schwertkampfkunst, von der er früher mit Stolz hatte behaupten können, dass sie bemerkenswert war, sondern ganz allein wegen seiner Größe. Und in diesem Aufzug konnte man ihn von all den anderen Silberschwertern in Astrae kaum noch unterscheiden. Vielleicht würde seine Mutter ihn noch wiedererkennen, aber die verängstigte Konkubine des Imperators würde sich ganz sicher nicht an ihn erinnern, ganz gleich, ob sie ihn zweimal sah oder zweihundertmal.
Und warum sollte es ihn interessieren, ob sie sich an ihn erinnerte?
Es interessierte ihn doch gar nicht.
Das Alef-Tor schloss sich, und das Parfüm des Mädchens war zu zart, um in der Luft hängenzubleiben. Sie würde ihre Pflicht tun, und Nevo würde seine tun und nie wieder an das Mädchen denken.
Zufälligerweise war sein Posten hier am Alef-Tor. Zusammen mit einem anderen Mann aus seiner Dreiergruppe löste er die davor stationierten Wachen ab. Die anderen Palastwachen gingen zu ihren jeweiligen Posten weiter, von denen die meisten tiefer im Inneren des großen Glasturms lagen, als Nevo je gewesen war. Die Privatgemächer des Imperators waren ihm als eine Art Schloss im Schloss beschrieben worden und bildeten das Herzstück des Turms der Eroberung. Das Alef-Tor war der äußerste Eingang; im Inneren verzweigten sich die Gänge labyrinthartig, so dass es keinen direkten Weg zu den dahinterliegenden Toren gab – Beit, Gimel,
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