Days of Blood and Starlight
gleichmütig. Als ihr letzte Woche die Flügel des Greifen Minas zu klein geraten waren, um sein Gewicht zu tragen, hatte er das überhaupt nicht lustig gefunden.
»Brimstone hätte nie so einen lächerlichen Fehler begangen«, hatte er sie angefaucht.
Ach!, hatte Karou erwidern wollen, mit all dem Ernst und der Reife, die sie aufbringen konnte. Was du nicht sagst?
Das Wiedererwecken war sowieso schon keine exakte Wissenschaft, und wie man das Verhältnis zwischen Flügelspanne und Gewicht berechnete … Tja, wenn sie gewusst hätte, was sie in ihrem späteren Leben machen würde, hätte sie in der Schule wahrscheinlich andere Fächer gewählt. Sie war eine Künstlerin, keine Ingenieurin.
Ich bin eine Wiedererweckerin.
Der Gedanke stieg in ihr auf, schal und seltsam wie immer.
Entschlossen kroch sie weiter unter den Tisch. Der Zahn konnte sich ja wohl nicht einfach in Luft aufgelöst haben. Dann, durch einen Riss im Stein, strich eine leichte Brise über ihre Fingerspitzen. Da war eine Öffnung. Der Zahn war durch ein Loch im Boden gefallen.
Karou setzte sich auf. Eine eisige Stille erfüllte sie. Sie wusste, was sie jetzt tun musste. Sie musste nach unten gehen und den Bewohner des Zimmers unter ihrem fragen, ob sie nach dem Zahn suchen durfte. Ein tiefer Widerwille machte sie bewegungsunfähig. Alles, nur nicht das.
Alles, nur nicht er .
Ob er wohl gerade da war? Sie schätzte schon; manchmal stellte sie sich vor, dass sie spüren konnte, wie seine Anwesenheit durch den Boden strahlte. Wahrscheinlich schlief er – immerhin war es tiefste Nacht.
Nichts konnte sie dazu bringen, mitten in der Nacht zu ihm zu gehen, also würde sie bis zum Morgen warten und ihn dann nach dem Zahn fragen.
Oder jedenfalls war das ihr Plan.
Dann, an ihrer Tür: ein Klopfen. Sie wusste sofort, wer es war. Er hatte natürlich kein Problem damit, mitten in der Nacht zu ihr zu kommen. Es war ein zartes Klopfen, und diese Zartheit störte sie mehr als alles andere – sie fühlte sich intim an, geheim. Sie wollte keine Geheimnisse mit ihm teilen.
»Karou?« Seine Stimme war sanft. Ihr ganzer Körper verkrampfte sich. Sie wusste besser als jeder andere, was sich unter seiner Sanftheit verbarg. Sie würde nicht antworten. Die Tür war verschlossen. Sollte er doch denken, dass sie schlief.
»Ich habe deinen Zahn«, rief er. »Er ist gerade auf meinem Kopf gelandet.«
Na toll, so viel dazu. Sie konnte wohl kaum so tun, als würde sie schlafen, wenn sie ihm gerade einen Zahn auf den Kopf geworfen hatte. Und sie wollte auch nicht, dass er dachte, dass sie sich vor ihm versteckte. Verdammt, warum hatte er immer noch so eine Wirkung auf sie? Ihr Zopf schwang in einem blauen Bogen hinter ihr her, als sie erhobenen Hauptes und entschlossenen Schrittes zur Tür ging, den uralten Riegel zurückschob – der hauptsächlich ein Schutz gegen ihn sein sollte – und die Tür öffnete. Sie streckte die Hand nach dem Zahn aus. Er musste ihn nur auf ihre Handfläche fallen lassen und wieder gehen, aber Karou wusste – ja, sie wusste genau –, dass es so einfach nicht werden würde.
Mit dem Weißen Wolf war es das nie.
Die Vergeltung der Engel
Der Weiße Wolf.
Der erstgeborene Sohn des Kriegsherrn, Held der vereinigten Stämme und General der Chimärenarmee. Oder dessen, was von ihr übriggeblieben war.
Thiago.
Er stand vor ihr im Gang, elegant und kühl in seiner weißen Tunika, seine langen weißen Haare zu einem lockeren Zopf zurückgebunden. Die weißen Haare bildeten einen scharfen Kontrast zu seiner Jugend – oder zumindest der Jugend seines Körpers. Seine Seele war Hunderte von Jahren alt und hatte unzählige Kriege und Tode miterlebt, nicht wenige davon seine eigenen. Aber sein Körper war in bester Verfassung, schön und kraftvoll – ein wahres Meisterwerk, wie nur Brimstone es hatte erschaffen können.
Er war hochmenschlich in seiner Form – Kopf und Oberkörper waren die eines Mannes – und nach seinen eigenen Vorgaben angefertigt: menschlich auf den ersten Blick, aber animalisch im Detail. Ein sinnliches Lächeln entblößte scharfe Reißzähne, seine starken Hände endeten in schwarzen Klauen, und seine Oberschenkel gingen auf halber Höhe in die Beine eines Wolfes über. Er sah sehr gut aus – irgendwie gleichzeitig rau und fein, mit einem Unterton von Wildheit, den Karou immer, wenn sie ihn sah, als lauernde Bedrohung empfand.
Und angesichts ihrer gemeinsamen Vergangenheit war das wirklich kein Wunder.
Er hatte
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