Dead: Band 1 - Roman (German Edition)
Gedanken, Jim allein zu lassen? «
» Er ist ein braver Junge. Der macht schon seinen Weg. «
» Sie sind eine sehr starke Frau « , sagte Paul.
Rita hustete. » Ich hab ja keine andere Wahl. «
» Glauben Sie auch, dass Sie mit Jesus im Reinen sind? «
» Ich glaube nicht an Jesus « , sagte Rita.
Paul schaute sie verdattert an. » Aber natürlich glauben Sie an ihn. «
» Nein, tu ich nicht. «
» Sie haben doch jahrelang in meiner Kirche gebetet. «
» Das stimmt. Aber geglaubt habe ich nie etwas. «
» Ach « , sagte er.
» Ich wollte Sie nicht beleidigen. «
» Sie glauben nicht, dass Sie an einen besonderen Ort gehen, und Sie fürchten sich auch nicht? «
» Warum sollte ich? Ich hab, wie gesagt, keine Wahl. «
Paul betrachtete sie eine Weile, da er nicht wusste, was er sagen sollte. Auf der Grundlage seiner Erfahrung als Seelsorger der Sterbenden und Lebenden hatte er stets die Ansicht vertreten, dass es in Schützenlöchern keine Atheisten gibt. Rita Greene erwies sich als seltene Ausnahme.
» Lesen Sie mir doch mal den Abschnitt aus Ekklesiastes vor « , sagte sie. » Den über die Jahreszeiten. «
» Ähm « , machte Paul. » Aber gewiss. « Er räusperte sich und rezitierte aus der Erinnerung. » Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit. «
» Hmmm. « Rita lächelte und schloss die Augen.
» Eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben. Eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ernten. Eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen. Eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen. Eine Zeit zum Klagen und eine Zeit zum Tanzen … «
Er hielt inne. Rita war eingeschlafen.
Jim, ihr Sohn, begegnete ihm in der Küche. Er war ein großer Mann und arbeitete in der Baubranche. Er erzählte Paul, dass er es nur schwer verwand. Sie saßen am Küchentisch und unterhielten sich.
» Chondrosarkom « , sagte Jim widerwillig. » Ich hab das Wort vor einer Woche zum ersten Mal gehört. Das ist das Ding, das meine Mama töten wird. Gottverdammter Krebs. «
Paul nickte.
» He, Pastor « , sagte Jim dann. » Was erzählen Sie den Leuten eigentlich, wenn Sie ihnen Trost spenden? Welche Technik wirkt am besten? «
» Tja, der schwierigste Teil ist, unseren Lieben die Erlaubnis zum Sterben zu geben « , erwiderte Paul. » Manche Menschen versuchen, sich auch dann noch mit ihren Lieben zu verständigen, wenn sie längst gegangen sind. Sie unterhalten sich noch mit ihnen, weil sie nicht wissen, wie sie weitermachen sollen. «
» Was also sagen Sie den Leuten, um ihnen zu helfen? «
Paul zückte einen Bleistift, nahm eine Serviette von einem ordentlichen Stapel am anderen Ende des Tisches und zeichnete eine dicke schwarze Linie.
» Ein Strich « , sagte Jim.
» Ich erzähle den Menschen, dass ihre Vergangenheit sich auf einer Seite dieser Linie befindet und ihre Zukunft auf der anderen liegt « , erklärte Paul. » Ich sage ihnen, dass sie anerkennen müssen, dass sie diese Linie überschritten und die Dinge sich geändert haben. Sie müssen loslassen und die Veränderung akzeptieren, damit sie in die Zukunft überwechseln können. «
Jim grunzte und ließ das Bild auf sich wirken.
Paul schaute auf die Linie und stellte sich vor, dass sie nicht die Vergangenheit von der Zukunft, sondern das Leben vom Tod trennte. Links: ein winziges Leben aus Freude, Härten, Suchen und Wandern. Rechts: entweder ewige Seligkeit im Verbund mit dem Schöpfer oder ewiges Vergessen – eine endlose, bewusstseinslose, erschreckende Finsternis –, jeder von uns für sich, jeder von uns vergessen, jeder von uns ein Nichts.
Je weiter die Überlebenden in die Tiefen des Krankenhauses vordringen und es erforschen, umso größer und komplexer scheint es zu werden. Sie markieren ihren Fortschritt mit einer Leuchtfarbendose. Sämtliche Telefone sind abgehoben. Ethan hebt einen Hörer hoch und drückt ihn an sein Ohr, bloß um eine altvertraute Handlung zu begehen. Er wählt seine Nummer und lauscht. Das Telefon klingelt nicht. Niemand geht ran. Er legt den Hörer vorsichtig auf die Gabel. Dann eilt er hinter den anderen her, um sie einzuholen. Sie sind vor einer Tür stehen geblieben.
Der saure, ätzende Geruch der Toten ist hier stark. Ethan drückt einen mit Kölnisch Wasser getränkten Lappen vor sein Gesicht und kämpft gegen den Würgereiz an.
» Wir müssen jeden Raum überprüfen « , sagt Anne.
Die anderen nicken zögernd und gehen hinein.
Ethan bedauert es
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