Dead Beautiful - Deine Seele in mir
war es bei Nathaniel nicht gewesen, dachte ich. Brandon Bell war ein Wächter. Deshalb wusste er, was Eleanor geworden war. Und er hatte Nathaniel bestraft, ohne zu wissen, ob er schuldig war. »Das kommt mir falsch vor«, sagte ich.
»Wer kann schon wirklich sagen, was richtig ist und was falsch?«, meinte mein Großvater.
»Dann sind es nur die Lehrer und das Komitee? Gibt es noch andere?«
»Es gibt andere, obwohl Wächter außerordentlich selten sind. Normalerweise sind es nur sehr wenige in jedem neuen Jahrgang. Manchmal auch nur einer. Und auch dann gibt es bei den Wächtern Abstufungen der Gabe, genau wie es verschiedene Stadien des Untotseins gibt. Deswegen haben wir die Zulassungsprüfungen. Die Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber dem Tod ist sehr unterschiedlich. Ein mittelmäßiger Wächter ist vielleicht fähig, einen Vogelkadaver in einem Busch von einem Meter Entfernung aufzuspüren. Ein normaler Mensch könnte das wahrscheinlichauch noch schaffen. Aber einen toten Vogel am anderen Ende des Campus würden sie nicht mehr finden. Nur die Begabtesten werden in das Wächterkomitee gewählt, wo sie eine sorgfältige Ausbildung erhalten. Ansonsten wären ihre Fähigkeiten wie eine geladene Waffe in der Hand von jemandem, der nicht richtig schießen kann.«
Eine Stille senkte sich über uns, in der ich über all das nachdachte, was mein Großvater mir gerade erzählt hatte. Ich versuchte, in meinem Kopf alles zusammenzubekommen. »Also werden die Untoten von den Wächtern beschützt und getötet?«
»Wächter sind Jäger. Aber sie haben auch die Funktion von Richtern. Sie tragen die schwere Verantwortung, zu entscheiden, ob ein Untoter ungefährlich ist oder gefährlich. Im letzteren Fall wird der Wächter die betreffende Person zur Ruhe legen. Deshalb kann man die Wächter auch nicht durch gewöhnliche Polizisten ersetzen. Weil nur einige wenige Auserwählte die Fähigkeit haben, den Tod zu spüren. Eine davon bist du.«
»Ich?«, fragte ich fassungslos. In meinem Kopf türmten sich plötzlich all die unerklärlichen Situationen aus meiner Vergangenheit; Dinge, die ich getan hatte, aber mir nicht erklären konnte; Dinge, die mir passiert waren, die keinen Sinn ergaben und anderen nie zu passieren schienen. War das womöglich nur, weil ich ein Wächter war? Ja, wollte ich sagen. Ja, ich war anders. Ich war immer anders gewesen.
»Renée, du zeigst alle Merkmale, die einen Wächter kennzeichnen.«
»Aber das kann ich nicht sein. Ich meine, ich bin doch nur ich. Renée. Ich habe keinen sechsten Sinn.«
»Du hast deine Eltern gefunden, tot, im Redwood-Wald.«
»Das war reiner Zufall. Ich hab ihr Auto am Straßenrand gesehen.«
»Als du zum ersten Mal hier warst, hast du mit Dustin Krocket gespielt und einen toten Vogel am Ende des Rasens gefunden.«
»Der Ball ist dahin gerollt. Das war nicht ich. Ich bin einfach nur mies im Krocket …« Meine Stimme verlor sich, als mir die erste Gartenbaustunde und das tote Kitz wieder einfielen. Oder wie ich die tote Maus in der Bibliothek entdeckt hatte. Oder wie ich mich dauernd in irgendeiner Ecke meines Zimmers wiederfand, wo ich gerade eine tote Spinne oder ein totes Insekt anstarrte.
»Der Tod hat dich schon immer angezogen, als ob du ihn spüren kannst. Das ging bereits früh los. Deine Mutter hat mir erzählt, dass du als Kind immer im Garten umhergewandert und dann zurückgekommen bist mit irgendeinem toten Insekt in deiner winzigen Faust. Während einem meiner Besuche bei euch – da warst du sechs – hast du eine Maus in der Falle hinter dem Kühlschrank gefunden. Sie hat entsetzlich gestunken – sie musste seit Tagen vor sich hin verwest sein, aber das hat dich anscheinend nicht gestört. Du hast sie mit der bloßen Hand aufgehoben und sie uns direkt vor dem Essen unter die Nase gehalten. Dein Vater wollte sie rausschmeißen, aber du hast darauf bestanden, dass sie mit allem Drum und Dran beerdigt wird. Sepultura , wie es bei uns heißt. Das hast du mit all deinen Haustieren getan.«
»Sepultura?« , wiederholte ich. Die zweite Todesursache in Cassandras Akte.
»Begräbnis. Die bevorzugte Methode, Untote zur ewigen Ruhe zu bringen, jedenfalls hierzulande. Das ist ein weiterer Grund für die vielen Regeln am Gottfried – um die Wächter bei ihrer Arbeit zu schützen. Die ›Licht aus‹-Regel nach der Sperrstunde wurde beispielsweise genau zu diesem speziellen Zweck eingeführt.«
Die Bedeutung hinter den Schulregeln war mir inzwischen ziemlich
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