Dead Beautiful - Deine Seele in mir
auf ihrem Pult und ließ die Beine baumeln wie ein Kind auf der Schaukel. Neben ihr stand ein Wasserglas. Anders als meine übrigen Lehrer vermittelte sie uns den Unterricht so, als würde sie eine Geschichte erzählen.
»Vor langer Zeit glaubte man, dass der Mensch aus zweierlei bestand – dem Körper und der Seele. Wenn der Körper starb, lebte die Seele weiter, wurde gereinigt und in einem anderen wiedergeboren. Mit diesem Gedankenhaben sich viele beschäftigt, in der abendländischen Kultur namentlich Platon und später René Descartes.
Zu seiner Zeit war Descartes ein berühmter Philosoph. Er war wie vom Tod besessen und schrieb dauernd darüber. Er behauptete sogar, den Weg zur Unsterblichkeit gefunden zu haben. Sein Geheimnis wollte er in einer Schrift veröffentlichen, die sein Lebenswerk sein sollte und an der er bis zu seinem Tod arbeitete. Er nannte sie seine Siebte Meditation . Als er dann starb, glaubten die Leute, das sei nur ein Schwindel, eine Art Experiment. Sie dachten, er habe eine Möglichkeit gefunden, den Tod zu überlisten und wiedergeboren zu werden.
Das konnte natürlich nie jemand beweisen und von Descartes hat keiner mehr etwas gehört. Es gab nur noch seine Schriften. Die Leute haben sie durchforstet und nach der Siebten Meditation gesucht, aber es blieb bei den sechs anderen, von denen keine einen Schlüssel zur Unsterblichkeit enthält.
Nachdem alle die Hoffnung schon aufgegeben hatten, kursierten auf einmal Gerüchte, dass jemand unter den Fundamenten seines Hauses etwas ausgegraben hatte – Descartes’ Siebte Meditation. Aber bevor sie veröffentlicht werden konnte, wurde sie bereits verboten. Den Gerüchten zufolge wurde alles verbrannt, genau wie die Exemplare, die man trotz des Verbots gedruckt hatte. Und bevor irgendjemand es lesen konnte, war das Buch vernichtet, und mit ihm all seine Geheimnisse.«
Während sie sprach, schaute ich aus dem Fenster und sah zu, wie sich die Äste im Wind wiegten. Ein Junge mit einem unordentlichen Papierstapel in der Hand rannte in RichtungHaus Horaz, offensichtlich zu spät zum Unterricht. Einer vom Wartungspersonal schaufelte Schnee am Parkrand. Die Überschwemmung und Eleanors Verschwinden schienen genau in die Reihe der anderen »Unfälle« zu passen, über die der Artikel im Portland Herald berichtet hatte. Und wenn Eleanors Verschwinden mit dem von Benjamin zu tun hatte, dann war die Wahrscheinlichkeit groß, dass man sie bald finden würde – gestorben an Herzversagen.
»Wir haben jedoch eine Ahnung davon, was in diesem letzten Werk enthalten war, Hinweise, die Gelehrte aus zeitgenössischen Werken gesammelt haben. In der Siebten Meditation verkündete Descartes, dass Kinder nicht sterben könnten. Er sagte, dass, anders als bei Erwachsenen, die Leichname von Kindern nur tot aussähen. Nach zehn Tagen erwachen sie und fangen wieder an zu leben – ohne Seele. Nach Descartes endet dieses Wiederauferstehen im Alter von einundzwanzig Jahren. Einige Philosophen halten dies für den Grund, warum wir jemanden mit einundzwanzig als erwachsen ansehen.«
Wenn ich nur einen Weg gefunden hätte, an diese Akten im Büro der Rektorin zu kommen, dann hätte es vielleicht irgendeine Möglichkeit gegeben, das mit Eleanor zu verhindern. Unauffällig trennte ich ein Stück Papier aus meinem Block heraus.
Wir müssen irgendwie ins Büro der Rektorin.
Ich faltete den Zettel und schob ihn zu Nathaniel rüber, als Miss LaBarge gerade nicht hinschaute. Er sah mich warnend an, als ob er wüsste, was ich vorhatte, und es nicht guthieß. Trotzdem kritzelte er eine Antwort und reichte mir den Zettel zurück.
Glaub kaum, dass du dafür meine Hilfe brauchst.
Ich war auch wirklich ein bisschen blöd. Warum hatte ich nicht schon vorher daran gedacht? Ich musste gar nicht ins Büro einbrechen, ich musste einfach wieder irgendetwas anstellen und mich dorthin schicken lassen. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie ich an die Akten kommen sollte, wenn ich einmal drin war, aber darum konnte ich mich dann an Ort und Stelle kümmern. Zufrieden knüllte ich den Zettel zusammen und steckte ihn mir in die Tasche.
Nach dem Unterricht begann die Befragung der Schüler wegen Eleanor. Eine nach der anderen wurde runter zu Mrs Lynch ins Zimmer gerufen. Eine Tür schlug zu. Nach einer Viertelstunde ging sie wieder auf. Dann wurde der nächste Name aufgerufen. Niemand sprach nach seinem Verhör. Eleanors Verschwinden und das Misstrauen, das Mrs Lynch unter den Schülerinnen
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