Dead Beautiful - Unendliche Sehnsucht: Roman (German Edition)
Lehrerin.
»Wir haben uns über die Île des Sœurs unterhalten. Über die Frauen, die dort die Untoten gefoltert haben.«
Madame Goût hob eine bleistiftdünne Augenbraue. »Folter? Von wem haben Sie das?«
»Monsieur Orneaux.«
Madame Goût stöhnte auf. »Natürlich muss MonsieurOrneaux wieder so etwas verbreiten. Er ist das, was wir einen
homme pour les hommes
nennen. Ein Mann für Männer. Und wie die meisten Männer hat er keinerlei Interesse für die Errungenschaften der Frauen«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Gar nichts weiß er«, murrte sie. »Ich habe denen schon hundertmal gesagt, dass er nicht qualifiziert ist, auf Schüler losgelassen zu werden.«
Eine peinliche Stille senkte sich über das Zimmer.
»Die Wahrheit ist, dass die ganze Wächtergesellschaft von Frauen gegründet wurde.« Madame Goût senkte die Stimme. »Und die Frauen, von denen Sie da sprechen, sind Les Neuf Sœurs oder die Neun Schwestern.«
»Wer war das?«, fragte Clementine.
Die Lehrerin drehte sich zur Tafel und wischte alle dort angeschriebenen Pronomina wieder ab. Dann griff sie sich ein Stück Kreide und schrieb in geschwungener Handschrift folgende Namen:
Gertrude Fine
Marie Champierre
Victoria Limon
Josephine Klein Prudence Beaufort
Hester Olivier
Chrisette Longtemp
Alma Alphonse
»Sie bildeten eine Geheimgesellschaft der Wächterinnen«, erklärte sie. »Eine Schwesternschaft.« Madame Goût zupfte ihren Rocksaum gerade, ging zur Tür und schloss sie. »Alles begann 1728 in Paris, als reiner Freundeskreis. BrillanteWächterinnen, jung, hochintelligent und alle unverheiratet, was damals sehr ungewöhnlich war. Sie nannten sich Les Neuf Sœurs, nach den neun Musen der griechischen Mythologie.«
»Was haben sie gemacht?«
»Man nimmt an, dass wir ihnen die meisten der frühen Wächterreformen verdanken – die Wächterschulen, Krankenhäuser, das Kloster auf der Île des Sœurs. Aber am bekanntesten sind sie dafür, ein Geheimnis gehütet zu haben.«
Jetzt hätte man eine Stecknadel fallen hören können.
»Ein Geheimnis? Was für ein Geheimnis?«, fragte Clementine.
Madame Goût faltete die Hände. »Darüber gibt es keinerlei Fakten, das ist alles reine Spekulation. Das hartnäckigste Gerücht besagt, dass sie das Geheimnis des ewigen Lebens entdeckt hätten.«
Mir glitt der Bleistift aus den Fingern und fiel zu Boden. Ich spürte Clementines Augen auf mir, wie sie meine Reaktion genau beobachtete. Mehr schlecht als recht verbarg ich meine Überraschung.
Madame Goût fuhr fort. »Die Überlegung an sich ist uralt: Wenn Kinder es schaffen, sich dem Tod über einundzwanzig Jahre zu widersetzen, könnte es doch für Erwachsene eine Möglichkeit geben, ihn für immer zu besiegen. Der Mythos der Unsterblichkeit hat eine unglaubliche Anziehungskraft.«
Unsterblichkeit.
Das Wort wirbelte in meinem Kopf herum wie eine Feder. Das ist es, dachte ich. Das ist die Lösung, nach der Dante und ich gesucht haben.
»Der Sage nach entschlossen sich Les Neuf Sœurs dazu,das Geheimnis des ewigen Lebens niemals zu nutzen. Die Macht, die sie da in den Händen hielten, flößte ihnen Angst ein. Ewiges Leben ist eine Perversion, wider die Natur. Eine Welt ohne Tod ist sogar noch schrecklicher als eine Welt
mit
Tod. Die Schönheit, die Magie, das
éphémère
… das alles wäre verloren. Also schlossen die Sœurs vor ihrem Tode angeblich einen Pakt, dass sie ihr Geheimnis mit ins Grab nehmen wollten.«
Es war so still im Raum, dass ich die Schritte des Lehrers im Klassenzimmer gegenüber hören konnte.
»Und das war’s?«, fragte Clementine. »Das Geheimnis ist verloren?«
Die Lehrerin trommelte mit ihren Fingern auf den Tisch. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht drehte sich das Geheimnis auch gar nie um die Unsterblichkeit, vielleicht ging es um ein Familienerbstück oder ein dreckiges Gerücht. Es kommt immer darauf an, an was man glauben möchte.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich und sprach extra laut, um den gluckernden Heizkörper zu übertönen. »Wenn Les Neuf Sœurs eine Geheimgesellschaft waren, woher weiß man dann so viel über sie? Oder sind das alles Märchen?«
Madame Goût hob eine Augenbraue, als hätte sie auf meine Frage gewartet. »Aber keineswegs. Zuerst war gar nichts über sie bekannt.« Sie stellte sich hinter ihren Stuhl und stützte sich auf die Rückenlehne. »Bis zu ihrem Tod.«
»Was meinen Sie?«, warf Anya ein.
Madame Goûts Miene wurde ernst.
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