Dead Beautiful - Unendliche Sehnsucht: Roman (German Edition)
verloren.«
»Was –«, fragte ich mit brechender Stimme. »Was ist die andere Art von – von –«
»Wanderlust?«
Ich nickte kläglich.
Über sein Gesicht huschte so etwas wie freudige Erregung. »Ich zeige es Ihnen.«
Er spulte vor und auf der Leinwand erschien eine Hand mit dem Schild PROBAND 043.
Im gleichen Klassenzimmer saß nun ein Mädchen in einem ausgeleierten Pulli und umklammerte ihre Knie. Nach einer Weile hob sie den Kopf zur Kamera. Bei ihrem Anblick begannen meine Mitschüler, unruhig auf den Stühlen herumzuruckeln. Sie schien in unserem Alter zu sein, obwohl ihr glanzloses, sprödes Haar wie Stroh aussah. Die Iris ihrer Augen war wie von Wolken umgeben; ihre Pupillen wirkten grau, ihr Blick ziellos, als starrte sie ins Nirgendwo.
»Wie alt bist du?«, fragte Dr. Neuhaus’ Stimme.
»Siebzehn«, sagte sie und nagte an ihren Fingernägeln.
»Und seit wann bist du tot?«
Sie bewegte ihre Finger und zählte, begann dann aber von Neuem, als habe sie den Faden verloren. »Neunzehn Jahre.«
»Und wie fühlst du dich?«
»Ausgedörrt. Stumpf. Leer.«
»Und wie hast du dich gefühlt, nachdem du deinen Arzt umgebracht hast?« Er sagte es freundlich, doch die Frage schien sie aufzuwühlen. Sie wand sich auf ihrem Stuhl, blickte von der Kamera zu Dr. Neuhaus und dann zu Boden.
»Ich wollte ihn nicht umbringen. Ich wollte nur mit ihm reden. Wir waren gute Freunde. Er war der Einzige, der mich verstanden hat. Ich konnte einfach nicht aufhören …«
»Warum hast du ihm Mull in den Mund gestopft?«, fragte Dr. Neuhaus sanft.
»Der lag schon da«, sagte sie. »Der war in seinem Büro. Ich hab ihn nicht selber mitgebracht.«
»Das weiß ich«, sagte er. »Aber warum hast du ihm den in den Mund gestopft?«
Das Mädchen rang die Hände. »Weil ich ihn nicht umbringen wollte. Ich wollte ihm einfach nahe sein. Ich hab so was gehört, dass man mit dem Mull verhindern kann, dass die Seele komplett übertragen wird. Wenn man es richtig anstellt. Aber das hab ich nicht.«
»Wer hat dir das erzählt?«, fragte Dr. Neuhaus mit deutlich festerer Stimme.
»Die Leute sagen, dass die Brüder das machen, um aus den Leuten Informationen rauszubekommen.«
Langes Schweigen.
»Hast du versucht, aus dem Doktor Informationen rauszubekommen?«
»Nein«, sagte sie ausdruckslos.
Dr. Neuhaus wartete ab und schließlich verbesserte sich das Mädchen. »Ich wollte nur wissen, ob er für mich das Gleiche empfindet wie ich für ihn. Mehr nicht.«
»Und was ist dann passiert?«
»Ich hab ihn geküsst und er – er ist zusammengeklappt und dann hab ich kapiert, was ich getan habe. Aber dann hab ich mich … innen drin voll gefühlt.«
»Kannst du das genauer erklären?«
»Es hat sich angefühlt, als hätte ich ihn in mir drin. Ich hab mich an Dinge aus seiner Vergangenheit erinnern können. Wie er’s in der Grundschule mal nicht mehr auf die Toilette geschafft hat oder an seinen ersten Kuss. Als er sich das erste Mal verliebt hat. Und wie wütend und traurig er war, als sein Vater gestorben ist.«
»Konntest du dich auch an andere Sachen erinnern? Zum Beispiel, was er am Abend zuvor gegessen hat?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf und sah aus, als würde sie in Tränen ausbrechen, wenn sie nur gekonnt hätte.
Dr. Neuhaus legte den Schalter wieder um und das Licht auf der Leinwand erlosch.
»Übertragung detaillierter Erinnerungen«, sagte er und schaltete das Deckenlicht ein. »Nachdem sie die Seele ihres Arztes genommen hat, hat sie seine stark emotional besetzten Erinnerungen in sich aufgenommen – Scham, Angst, Liebe, Glück … Das ist eine seltenere Erscheinungsform der Wanderlust; eine, die eher bei Untoten im Teenageralter auftritt als bei jüngeren Kindern.«
»Und der Mull?«, fragte Anya neben mir. Sie dachte an die Neun Schwestern, doch in meinem Kopf war nur Raum für meine Eltern und Miss LaBarge.
»Ich sage Ihnen, was ich glaube«, antwortete er zögerlich, »und ich bitte Sie dabei dringend zu beachten, dass es dafür bisher keine wissenschaftlichen Belege gibt. Das Ausstopfen des Mundes eines Opfers mit Mull vor dem Seelenraub kann eine Methode der Untoten sein, Informationen oder Erinnerungen aus ihren Opfern herauszuziehen, ohne sie sofort zu töten. Oder, mit anderen Worten: Wenn man es richtig anstellt, kann das Füllen des Mundes mit Mull verhindern, dass mit nur einem Kuss die ganze Seele genommen wird.«
Mein Atem war ganz flach geworden,
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