Dead - Ein Alex-Cross-Roman
entfernt stand.
Während der ganzen Zeit blickte der Killer alle paar Sekunden über die Schulter zurück zur Kamera.
»Seht ihr das? Wie er wieder ins Bild zurückkommt?«, fragte Bree. »Seine Vorstellung war nicht nur für die Menge da unten auf der Straße gedacht, sondern genauso auch für uns - jedenfalls für diejenigen, die das Video entdecken. Seht euch mal das Gesicht dieses Dreckschweins an.« Jetzt lächelte er. Selbst aus dieser Entfernung war sein unheimliches Grinsen klar und eindeutig zu erkennen.
Die nächsten Sekunden schienen sich endlos in die Länge zu ziehen, genau wie für Tess Olsen, da bin ich mir sicher. Jetzt holte er sie ins Zimmer zurück und legte sie auf den Boden. Hat sie in diesem Augenblick an eine Begnadigung geglaubt? Hat sie geglaubt, dass sie mit dem Leben davonkommt? Ihre Schultern hoben und senkten sich, dann fing sie an zu weinen. Nach einer Minute schaffte er sie wieder auf den Balkon hinaus.
»Jetzt kommt’s«, sagte Bree mit ernster Stimme. »Ich will mir das nicht ansehen.« Aber sie sah es sich an. Wir alle sahen es uns an.
Der Killer war ein kräftiger Mann, wahrscheinlich deutlich über eins achtzig groß und athletisch gebaut. Zu meinem großen Entsetzen hob er Tess Olsen wie eine Langhantel hoch über seinen Kopf. Noch einmal warf er einen Blick in Richtung Kamera - Ja, du Schweinepriester, wir sehen dir zu -, zwinkerte und warf sie vom Balkon.
»Mein Gott«, flüsterte Bree. »Hat er uns etwa zugezwinkert?«
Danach blieb er auf dem Balkon stehen. Oder im Bildausschnitt. An seiner Kopfhaltung konnte ich erkennen, dass er nicht direkt nach unten auf den Fleck schaute, wo sie gelandet war. Er blickte zu seinem Publikum, zu den Leuten da unten
auf der Straße. Er ging Risiken ein, die absolut nicht notwendig waren.
Alles in allem war das gut für uns. Vielleicht konnten wir ihm dadurch auf die Schliche kommen, konnten diesen Drecksack fangen. Er war leichtsinnig und spielte sich gerne vor Publikum auf.
Dann analysierte ich meinen eigenen Gedanken: Wir , nicht sie , würden diesen Hurensohn fangen.
Schließlich sprach der Killer direkt in die Kamera, und das war das Gruseligste überhaupt. »Sie können ja versuchen, mich zu fangen«, sagte er, »aber es wird Ihnen nicht gelingen... Herr Dr. Cross.«
Sampson, Bree und ich schauten einander an. John und ich waren sprachlos, und Bree brachte nicht mehr hervor als ein »Heilige Scheiße, Alex«.
Ob ich nun darauf vorbereitet war oder nicht, ich war jedenfalls wieder im Spiel.
17
Tja, ich war nicht darauf vorbereitet. Jedenfalls noch nicht. Vier Tage nach dem Mord im Riverwalk dachte ich über meine Klienten nach. Aber ich befand mich bereits im Zwiespalt. Ich versuchte, nicht an den Mord an Tess Olsen zu denken und daran, wer dieser wahnsinnige Killer sein konnte und woher um alles in der Welt er mich kannte und was, zum Teufel, er bloß von mir wollte.
Ich konnte nicht anders, als meinen Tag mit einem kurzen Blick auf die neuesten Nachrichten auf www.washingtonpost.com . zu beginnen. In der Nacht war nichts weiter passiert, Gott sei Dank. Keine weiteren Morde, also handelte es sich zumindest nicht um einen Amoklauf.
Die morgendlichen Therapiesitzungen würden sowieso meine ganze Aufmerksamkeit erfordern. Es war der vollste Tag der Woche, auf den ich mich jedes Mal freute und den ich gleichzeitig in gewisser Hinsicht fürchtete. Es bestand immer die Hoffnung, dass ich bei einem meiner Klienten etwas Positives, vielleicht einen Durchbruch erreichte. Aber ich konnte auch genauso gut auf die Schnauze fallen.
Mein Tag begann um sieben Uhr mit einem frisch verwitweten Feuerwehrmann aus Washington, der sich im Konflikt zwischen dem Pflichtgefühl gegenüber seinem Job und seinen Kindern auf der einen und einem stetig größer werdenden Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens und damit einhergehenden, täglichen Selbstmordgedanken auf der anderen Seite befand.
Um acht hatte ich einen Termin mit einem Kriegsveteranen der Operation Wüstensturm, der immer noch mit den Dämonen des Krieges zu kämpfen hatte. Er war mir von meiner
eigenen Therapeutin, Adele Finally, überwiesen worden, und ich war guter Hoffnung, dass ich ihm irgendwann helfen konnte. Trotzdem, er befand sich immer noch in der Krisenphase, also ließ sich nicht sagen, ob wir wirklich in Kontakt miteinander waren.
Als Nächstes kam eine Frau, deren Wochenbettdepressionen bei ihr sehr ambivalente Gefühle gegenüber ihrer sechs Monate alten Tochter
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