Dead - Ein Alex-Cross-Roman
ausgelöst hatten. Wir sprachen über ihr Baby und sogar ein bisschen - nur für eine Minute - über meine Gefühle gegenüber Damon, der womöglich bald auf eine Prep-School gehen und sein Zuhause verlassen würde. Bei meinen Therapiesitzungen bevorzuge ich, wie in der Polizeiarbeit auch, einen eher unorthodoxen Stil. Ich war da, um mit den Menschen zu reden, also redete ich zwanglos mit ihnen - meistens zumindest.
Ich hatte eine halbe Stunde Pause, die ich nutzte, um mit Bree zu telefonieren und noch einmal auf www.washingtonpost.com zu gehen. Immer noch nichts Neues, keine weiteren Attentate, keine Erklärungen für Tess Olsens Tod.
Die letzte Klientin an diesem Vormittag war eine Jurastudentin aus Georgetown, deren Angst vor Schmutz und Bakterien aller Art so groß geworden war, dass sie mittlerweile jeden Abend ihre Unterwäsche verbrannte.
Was für ein Vormittag. Auf merkwürdige Weise befriedigend und relativ ungefährlich - zumindest für mich.
18
Brees Anruf erreichte mich in meiner Praxis. Gleich würde meine Ein-Uhr-Klientin eintreffen, und ich aß gerade ein unbelegtes Brötchen. »Wir haben das Video ein bisschen gründlicher unter die Lupe genommen«, sagte sie. »Mich interessiert, was du davon hältst, Alex: Der Killer hat eine halbmondförmige Narbe auf der Stirn. Sie ist ziemlich gut zu erkennen.«
Ich dachte kurz nach, dann sagte ich: »Könnte sein, dass er in der Vergangenheit ein Schädeltrauma erlitten hat. Das ist ein Schuss ins Blaue, aber womöglich haben ja seine Stirnlappen darunter gelitten. Menschen mit beschädigten Stirnlappen können sehr aufbrausend und impulsiv sein.«
»Danke, Doc«, erwiderte Bree. »Schön, dich im Team zu haben.«
Ich gehörte also zum Team? Seit wann denn das? Hatte ich dem zugestimmt? Meiner Meinung nach nicht.
Nach dem Mittagessen und der überaus netten Plauderei über den Mordfall mit Bree hatte ich mit Sandy Quinlan, Mitte dreißig, meine letzte Klientin am heutigen Tag. Sie war gleichzeitig meine Lieblingsklientin.
Sandy war erst kürzlich aus einer Kleinstadt im nördlichen Michigan, unweit der kanadischen Grenze, nach Washington gezogen. Sie hatte einen Job als Lehrerin in Southeast, einem Problembezirk in der Innenstadt angenommen, und sich dadurch meine sofortige Zuneigung erworben.
Doch bedauerlicherweise empfand Sandy keine große Zuneigung zu sich selbst. »Ich wette, Sie haben ein Dutzend solcher Klientinnen wie mich. Lauter einsame, depressive Single-Frauen in der großen, bösen Stadt.«
»Um ehrlich zu sein, nein.« Ich sagte ihr die Wahrheit, eine meiner schrecklichen Angewohnheiten. »Sie sind meine einzige einsame, depressive Single-Frau in der großen, bösen Stadt.«
Sandy lächelte, dann fuhr sie fort. »Na ja, es ist einfach... jämmerlich. Fast alle Frauen, die ich kenne, suchen genau dasselbe.«
»Glück?«, fragte ich.
»Eigentlich wollte ich sagen, einen Mann. Oder vielleicht eine Frau. Einen geliebten Menschen jedenfalls.«
Ich sah Sandy eindeutig mit anderen Augen als sie sich selbst. Sie hatte sich für den klassischen Look aller Mauerblümchen entschieden und versteckte ihr hübsches Äußeres hinter einer schwarz gerahmten Brille und dunkler, sackähnlicher Kleidung. Nachdem sie angefangen hatte, Vertrauen zu mir zu fassen, hatte sie sich, wenn sie wollte, als umgängliche, interessante und witzige Person erwiesen. Und ihre Schüler lagen ihr wirklich sehr am Herzen. Sie sprach viel und nur mit großer Herzlichkeit über sie. Ohne jede Zweideutigkeit.
»In meinen Augen sind Sie wirklich alles andere als jämmerlich«, sagte ich schließlich. »Tut mir leid, ist nur meine persönliche Meinung. Ich könnte natürlich auch vollkommen falsch liegen.«
»Na ja, wie würden Sie es nennen, wenn Ihr Therapeut mit großer Wahrscheinlichkeit auch Ihr bester Freund ist?« Doch bevor ich etwas darauf erwidern konnte, stieß sie ein unsicheres Lachen aus. »Keine Angst, ich meine das gar nicht so krankhaft, wie es sich anhört. Ich will damit nur sagen, dass...«
Mein erster, menschlicher Impuls war der, nach ihrer Hand zu greifen, als Therapeut jedoch konnte beziehungsweise durfte ich das nicht. Aber irgendetwas in ihrem Blick, diesem hilfsbedürftigen Blick, löste in mir eine zweifache Reaktion aus. Ich wollte sie wissen lassen, dass es mir nicht egal war, wie es ihr
ging. Und ich wollte sicherstellen, dass unsere Beziehung eindeutig geklärt war. Vielleicht hatten Sandys Tonfall und ihr erwartungsvoller Blick ja
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