Dead Man's Song
aufs 87. gebracht worden war, war man als Rauschgifthändler am übelsten dran. Zu viele Polizeibeamte waren von Männern, die Rauschgift an Schulkinder verhökerten, angeschossen und getötet worden, und wenn auch solche Kriminelle in keinem Revier der City besonders freundlich empfangen wurden, war die Verbindung von Rauschgift und Mord und vor allem der Mord an einem Polizeibeamten den Cops des 87. an diesem Morgen besonders bewußt - vor allem, nachdem bekannt geworden war, daß der Verdächtige, der von Kling und Brown verhört worden war, als Vollstrecker für das kolumbianische Kartell arbeitete.
Selbst im Bewußtsein reißerischer Schlagzeilen und Proteste und Märsche zum Rathaus, selbst in Kenntnis einer öffentlichen Aufmerksamkeit, die dafür sorgen konnte, daß winzige Vergehen zu Staatsverbrechen hochgeschaukelt wurden, waren die Cops des 87. an diesem Morgen ziemlich unsensibel, wenn nicht sogar offen rücksichtslos, indem sie mit Handschellen gefesselte Gefangene in Arrestzellen oder Transporter hineinstießen, wenn eine einfache Aufforderung ausgereicht hätte, indem sie Schimpfworte und sogar Beleidigungen ausstießen und all ihren Ängsten, ihrer Wut, ihrem Haß Luft machten und Kriminelle jeder Couleur wie Dreckschweine, Scheißköpfe und abgrundtief böse Hurensöhne behandelten und sich tatsächlich wie die brutalen, verabscheuungswürdigen Mistkerle verhielten, für die die Bürger dieser Stadt sie hielten und schon immer gehalten hatten.
Verbrechen machte sich an diesem Donnerstag morgen nicht bezahlt.
Nicht, wenn ein Cop im St. Mary’s Hospital lag.
Sie hatte gewußt, daß Kling früh an diesem Morgen eine heikle Verhaftung durchführen wollte, und als sie sich am Telefon meldete und erfuhr, daß ein Cop angeschossen und mit einer, wie man anfangs erklärte, Bauchwunde ins St. Mary’s eingeliefert worden war, nahm sie zuerst an, es wäre Kling. Zu ihrer Erleichterung erfuhr sie dann, daß er nicht das Opfer war, doch jeder angeschossene Cop war ein Problem für Sharyn Cooke, weil sie stellvertretende Chefärztin bei der Polizeibehörde war und ihr Job darin bestand, dafür zu sorgen, daß jedem Polizisten in ihrem Dienstbereich die beste Behandlung zuteil wurde, die die Stadt zu bieten hatte.
Die ungewöhnliche Schreibweise ihres Vornamens rührte daher, daß ihre damals erst dreizehn Jahre alte ledige Mutter nicht wußte, wie man Sharon schreibt. Dieselbe Mutter brachte sie später durchs College und anschließend durchs Medizinstudium. Das Geld dafür verdiente sie, indem sie nach Feierabend die Büros der Weißen schrubbte. Sharyn Cooke war schwarz und die erste Farbige, die jemals in dem Job tätig gewesen war, den sie innehatte. Ihre Haut hatte die Farbe von gebrannten Mandeln, während ihre Augen lehmgelb waren. In ihrer Freizeit entschied sie sich oft für rauchblauen Lidschatten und burgunderroten Lippenstift. Zur Arbeit trug sie überhaupt kein Make-up. Hohe Wangenknochen, ein markanter Mund und Haar in einem gemilderten Afrolook verliehen ihr das Aussehen einer stolzen Massaifrau. Mit ihren knapp einsachtzig Körpergröße fühlte sie sich in dem kompakten Automobil, das sie fuhr, stets eingeengt, und ständig verschob sie den Vordersitz, damit ihre langen Beine genügend Platz fanden. Sie brauchte vierzig Minuten für die Fahrt von ihrem Apartment in den Randbezirken von Calm’s Point bis zum St. Mary’s Hospital im Zentrum des unteren Isola, unweit des Apartmenthauses, in dem Maxie Blaine verhaftet worden war. St. Mary’s war das vielleicht zweitschlechteste Krankenhaus in der Stadt, aber das war nur ein schwacher Trost.
Ein Besuch bei Willis in der Notaufnahme versicherte Sharyn, daß es sich nicht um die Bauch wunde handelte, wie sie befürchtet hatte, aber ungefähr zwei bis drei Prozent aller tödlichen Schußwunden kamen in den unteren Extremitäten vor, und die Kugel steckte noch immer in seinem Oberschenkel, dicht an der Beinschlagader. Sie wollte nicht, daß irgendein Dummkopf, frisch von der Uni in irgendeinem Provinznest, darin herumstocherte und schlimmere Blutungen verursachte. Sie begab sich sofort zum Krankenhauschef, einem nicht mehr praktizierenden Arzt namens Howard Langdon.
Langdon trug einen grauen Flanellanzug mit breiten Revers, der schon vor zehn Jahren aus der Mode gekommen war. Dazu trug er ein pinkfarbenes Oberhemd und eine Strickkrawatte, die eine Schattierung dunkler war als sein Anzug. Er hatte weißes Haar und einen weißen Kinnbart. Er
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