Deadline 24
mit Informationen. Der Schock wirkte noch lange nach, man wollte so wenig wie möglich daran rühren. Das Leben war hart in diesen windumtosten, kalten Bergen, doch die Ebenen waren unbewohnbar. Nach dem Verschwinden der Menschen hatten sich dort Unmassen von Schädlingen breitgemacht, am schlimmsten waren Fresskäfer und Frostläufer. In den Bergen dagegen nisteten Drachen, eine Hybridenart, nehme ich an, die über die Viehherden herfielen und auch vor der Menschenjagd nicht haltmachten, und Gählinge vernichteten regelmäßig die kargen Ernten. So zogen die Menschen der Hochlande an die Küste und versuchten sich im Fischfang. Doch mit dem Ende der weltweiten Meeresüberwachung hatten sich auch die Geschöpfe der Tiefsee wieder vermehren können, die guten und leider auch die üblen. Von zehn Booten, die ausfuhren, kamen fünf nicht zurück. Es muss ein schweres, elendes Leben gewesen sein.
Eines Tages nun, und hier setzt die eigentliche Chronik ein, geschah so etwas wie ein Wunder: Die Vorfahren stellten zu ihrer großen Freude fest, dass sie nicht die einzigen Überlebenden waren, wie sie immer geglaubt hatten. Eine kleine Flotte von Explorer-Schiffen landete an ihrer Küste, gesteuert von tapferen Männern und Frauen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Meere zu erforschen und die Küsten nach Überlebenden abzusuchen.«
»Dacht ich mir’s doch!«, rief Caleb mit blitzenden Augen. »Das waren Helden, die Explorer! Sie fanden heraus, dass die Mermaiden in den alten Schiffswracks hausten und die sogar wieder zum Fahren bringen konnten. Also schlossen sie Freundschaft mit den Mermaiden. Das war der Beginn der modernen Seefahrt. Ohne Explorer gäbe es die nicht, niemand wäre je auf dem Meer rumgefahren und niemand wäre nach Esperanza gekommen. Es würde überhaupt keine Stadt namens Esperanza geben, nur ein von Gorgonen und Spuckvipern verseuchtes Kaff auf einer Halbinsel. Alle Seeleute erzählen sich Geschichten von den Explorern. Die sind unsere Helden. Heute könnt ihr lange suchen, aber solche wie die gibt es nicht mehr!«
»Nur nicht so pessimistisch, Caleb!«, rief Josie. »Vielleicht sind wir ja die neuen Helden.«
»Vier gescheiterte Seeleute und eine Müllsammlerin? Tolle Helden!«
»Ich glaube, jeder kann ein Held werden«, widersprach Paul. »Die Herkunft hat damit gar nichts zu tun.«
»Mag sein«, meinte Großvater. »Allerdings sollte man sich das gut überlegen, Helden sterben meistens jung. Auch viele der tapferen Explorer ließen ihr Leben, aber das ist eine andere Geschichte. Meine Ahnen jedenfalls hörten damals zum ersten Mal von der Stadt Esperanza, weit im Süden, in einem milden, freundlichen Klima, auf einer Halbinsel gelegen, wo sie vor den schrecklichen Monstern der Lüfte durch die Gesänge der See, der Mermaiden geschützt war. Von überall her, erzählten die Explorer, seien Menschen dorthin aufgebrochen. Meine Vorfahren nun waren keine leichtgläubigen Leute, sie packten nicht sofort ihre Siebensachen, sie fragten genau nach und waren daher gut informiert über das, was sie erwartete. Sie wussten Bescheid über Gorgonen, Spuckvipern, Trugnebel und Hybride, erst recht kannten sie die Gefahren der langen Reise. Dass sie letztlich doch mit den Explorern aufbrachen, beweist einmal mehr, wie unerträglich das Leben in der alten Heimat geworden war.«
»Wenn Ihre Vorfahren von Norden kamen, haben sie dann auch das große Land der Mitte gesehen?«, fragte Josie.
»Sie schipperten ein Stück an seiner Küste entlang«, bestätigte Großvater. »Alles tot. Nur die Schleier der Silkies wehten bis aufs Meer hinaus. Ist es mittlerweile anders geworden? Gibt es Nachrichten von dort?«
»Überhaupt nicht«, erwiderte Josie. »Meine Mu…«, sie schluckte, »meine mutigen Freunde hier wissen auch nichts Neues.«
»Natürlich nicht«, brummte Caleb. »Wir sind nur die Routen nach Süden und Südwesten gefahren, das weißt du doch.«
Sally hatte das sichere Gefühl, dass Josie eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen, dass sie sich um ein Haar verplappert hätte, aber außer ihr schien niemandem etwas aufgefallen zu sein, nicht mal Großvater.
»Ich will euch junge Leute nicht weiter mit alten Geschichten langweilen«, fuhr er fort. »Aber drei von sechs Schiffen gingen verloren, weil ihre Piloten sich an die Mermaiden auslieferten. Die Meerwesen, so gut sie auch immer sein mögen, verlangen einen hohen Preis für ihre Dienste. Doch wem sage ich das. Ich habe das Gefühl«, er
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