Dear Germany - Dear Germany - Life without a top sheet
Geena und ich uns damit ab, dass die Bombenentschärfung eben so lange dauern würde, wie sie dauerte. Niemand konnte das zeitlich abschätzen.
Im Biergarten tauchten nach und nach andere Mütter aus unserem Bekanntenkreis mit ihren Sprösslingen auf, die wie wir in der Evakuierungszone wohnten. Insgesamt wurde es sogar ein halbwegs gemütlicher Nachmittag. Die Kinder tobten stundenlang auf dem Spielplatz am Rheinufer, und irgendwann erklärten wir das Ganze zu einer Evakuierungsparty. Das Biergartenpersonal hatte alle Hände voll zu tun, die vielen Leute zu bewirten, die ihre Häuser hatten räumen müssen. Bratwürste und Salat, Bier und Fanta wurden in rauen Mengen bestellt. Am Abend saßen wir immer noch draußen, und es wurde merklich kühler. Geena und ich hatten nur Shorts und dünne T-Shirts an, weil es tagsüber so warm gewesen war und wir ursprünglich nicht geplant hatten, so lange aus dem Haus zu gehen. Leider hatte ich in der Hektik nicht daran gedacht, wärmere Kleidung einzupacken. Gegen zwanzig Uhr kamPeter aus Köln von der Arbeit und gesellte sich zu uns. Er zog als Erstes sein Jackett aus und wickelte Geena darin ein. Das arme Kind war – wie ich – völlig durchgefroren. Dann gingen wir zu seinem Wagen, um nach wärmerer Kleidung für mich zu suchen. Im Kofferraum lag jedoch lediglich seine Sporttasche mit einem ziemlich zerknitterten T-Shirt. Es roch auch nicht gerade frisch, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. Vielleicht sollte man in den Deutschkursen der Volkshochschule auch eine Extra-Lektion zum Thema Evakuieren – aber richtig einarbeiten. Eine meiner Freundinnen, die Belgierin ist, muss an solch einem Kurs teilgenommen haben. Sie kam nämlich mit einem gepackten Koffer voller Wäsche zum Wechseln, warmen Pullovern und einer kleinen Mappe mit allen wichtigen Familiendokumenten zu unserem Notaufnahmelager.
Gegen einundzwanzig Uhr wollten Peter und ich uns auf die Suche nach einem Hotel machen, da unser Wohnviertel immer noch abgesperrt war. Es ging das Gerücht um, dass sich die Entschärfung der Bombe noch bis Mitternacht hinziehen könnte. So lange konnten wir nicht im Biergarten bleiben, denn Geena musste am nächsten Morgen zur Schule und Peter zur Arbeit.
Vorher fuhren wir kurz an der Turnhalle vorbei, um Neuigkeiten zu erfahren. Es gab aber keine. Alles wie gehabt. Doch gerade als wir ins Auto steigen und zu einem Hotel fahren wollten, hörten wir eine gedämpfte Explosion. Kurz darauf teilte eine Lautsprecherstimme mit, dass wir in unsere Häuser zurückkehren konnten. Hurra, endlich ein warmes Bett! Als wir in unsere Auffahrt bogen, stand unser Haus unversehrt da. Die Explosion, die wir gehört hatten, stammte von der Entschärfung der Zündkapsel. Die Bombe selbst blieb intakt.
Die Lokalblätter waren am nächsten Morgen schnell vergriffen, aber ich konnte eine Zeitung ergattern. Am Tag der Evakuierung hatte ich nicht richtig mitbekommen, wo genaudie Bombe gefunden wurde. Als ich den Polizeibeamten danach fragte, hatte er mir zwar den Straßennamen gesagt, aber damit konnte ich nicht viel anfangen. Doch beim Blick auf das Titelfoto der Zeitung fielen Peter und ich aus allen Wolken. Die Fundstelle lag nur einen Steinwurf von unserem Haus entfernt. Vom Arbeitszimmer im oberen Stockwerk konnten wir direkt auf die Baustelle blicken.
Die Bombe selbst war 1728 Kilogramm schwer und ein englisches Fabrikat Typ HC 4000 LB. Also kam sie wenigstens nicht von meinen Landsleuten … Sie war bei Aushebungsarbeiten entdeckt worden. Einer der Bauarbeiter hatte den zigarrenförmigen Metallkörper zunächst für einen alten Wasserboiler gehalten. Ein Glück, dass das Ding zu schwer war, um es aus dem Boden zu heben. Als die Arbeiter einen genaueren Blick darauf warfen, wurde ihnen schnell klar, dass es sich bei dem alten Metallzylinder um einen Blindgänger handelte – also eine Bombe, die nicht explodiert war, als sie vor rund sechzig Jahren abgeworfen wurde. Sie verständigten die Behörden, die als erste Vorsichtsmaßnahme ungefähr viertausend Anwohner evakuieren ließen.
Während die Bauarbeiten in den darauffolgenden Wochen auf dem Grundstück weitergingen, hofften wir, dass keine weiteren Erinnerungsstücke aus dem Zweiten Weltkrieg ans Tageslicht befördert würden, und nahmen das Ganze eher fatalistisch. Wie lautet schließlich das alte Sprichwort? Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß! Und wir hatten auch keine Lust, eine Tiefengrabung unter dem Sandkasten
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