Dear Germany - Dear Germany - Life without a top sheet
dagegen spricht man sogar seinen Rechtsanwalt mit dem Vornamen an. Damit ist man sofort auf demselben Niveau, lediglich in unterschiedlichen Funktionen. Das hat einen großen Vorteil: Jeder hat bei der Arbeit das Gefühl, einen Beitrag zum Großen und Ganzen zu leisten, und niemand fühlt sich den Kollegen gegenüber allzu überlegen. Das macht es einfacher, konstruktive Kritik zu üben, auch gegenüber Vorgesetzten.
Wenn ich den deutschen Arbeitnehmern zuhöre, habe ich allerdings oft das Gefühl, dass es im Arbeitsleben weitaus wichtigere Dinge als Vorgesetzte und Betriebsräte gibt. Urlaub zum Beispiel.
Ich wollte meinen Ohren nicht trauen, als ich vom Urlaubsanspruch der Deutschen erfuhr: Nimmt man die fünfundzwanzig bis dreißig Tage Urlaub im Jahr und zählt, je nach Bundesland, neun bis zwölf Feiertage dazu, ergibt das eine Menge Freizeit, so um die vierzig Tage. Das sind fast zwei Monate, wenn man nur die Arbeitstage rechnet. Gleichzeitig erschreckte mich die Einstellung mancher Arbeitnehmer: »Diesen Urlaub habe ich mir redlich verdient, ich Armer. Ich bin völlig überarbeitet.«
Urlaub als Geburtsrecht zu sehen fällt schwer, wenn man in einem Land aufgewachsen ist, in dem die Arbeit immer an erster Stelle steht. Mit der typisch deutschen Einstellung konnte ich mich lange nicht anfreunden. Das liegt vielleicht daran, dass ich mit dem Leitspruch von John F. Kennedy aufgewachsen bin, der einmal sagte: »Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.« Meine berufliche Erfahrung in den USA hat mich gelehrt, dass man sich Vergünstigungen erst erarbeiten muss und nicht als gegeben voraussetzen kann.
In den USA ist der Freizeitanspruch viel geringer, und deshalb gibt es darüber auch wenig zu reden. Ich denke zum Beispiel an meinen ersten Job Mitte der Achtzigerjahre: Im ersten Jahr bekam ich überhaupt keinen Urlaub, dann eine Woche, und erst ab dem dritten Jahr hatte ich Anspruch auf zwei Wochen freie Zeit. Zwei Wochen gelten auch heute noch als durchaus normal in den USA.
Erzählt man Amerikanern vom klassischen deutschen Urlaubsanspruch, dann können sie es kaum fassen: »Sechs Wochen Urlaub im Jahr und danach habt Ihr Euren Job noch? Unglaublich!«
Aber hierzulande hört man auf den Fluren jeder x-beliebigen Firma: »Sie sehen gut erholt aus. Sie hatten wohl einen schönen Urlaub.« Oder: »Wie viel Urlaub hast du noch übrig? Ich habe noch zwölf Tage Resturlaub, aber ich weiß einfach nicht, wann ich die nehmen soll.« Oder: »Ich muss meinen Resturlaub bis Ende März nehmen, dabei habe ich garkein Geld, um zu verreisen. Aber was soll ich machen? Vielleicht bleibe ich einfach zu Hause und mache es mir dort gemütlich.«
Die Firmen sind sogar dazu verpflichtet, die Mitarbeiter über ihre Ansprüche auf dem Laufenden zu halten, denn schließlich soll niemand Urlaubstage verschenken.
Sollten das Personalbüro oder die Sekretärin einmal vergessen haben, die Mitarbeiter an ihren Resturlaub zu erinnern, braucht man nur die Zeitung aufzuschlagen. In unserer Lokalzeitung stand ein Artikel zu eben diesem Thema, in dem daran erinnert wurde, die restlichen Urlaubstage nicht verfallen zu lassen. Die Überschrift lautete: »Resturlaub jetzt schnell noch nehmen!« Es klang fast wie eine Warnung der Öffentlichkeit: »Achtung, liebe Bundesbürger, Sie sollten nicht einen Tag länger arbeiten, als Sie müssen.« In dem Artikel wurde darauf hingewiesen, dass laut Gesetz der Resturlaub bis Ende März des Folgejahres abgegolten sein muss. Auf diese Weise wird der Leser morgens bei der ersten Tasse Kaffee direkt animiert, seinen nächsten Urlaub zu planen
Wie der hohe Urlaubsanspruch sind mir die vielen religiösen Feiertage in manchen Bundesländern ein Rätsel. Die Deutschen sind nicht wirklich religiös: Laut einer Umfrage glauben 65 Prozent der Deutschen an Gott, aber nur 15 Prozent der Gläubigen besuchen regelmäßig den Gottesdienst. Und das ist das eigentlich Rätselhafte daran, denn die Feiertage nehmen die Menschen trotzdem sehr gerne mit. Vor allem in den Monaten Mai und Juni häufen sich die katholischen Feiertage, an denen Schulen und Geschäfte geschlossen bleiben. In einigen Bundesländern gibt es zwar weniger davon, aber nicht in den katholisch geprägten Regionen wie Bayern oder Nordrhein-Westfalen, wo ich lebe. Zu denken, dass die Gläubigen an solchen Tagen alle in die Kirche gehen, um zu beten und sich zu besinnen, ist jedoch falsch. Ganz im
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