Deathbook (German Edition)
Brücke hinunter. Jenseits der Brücke bog das Mädchen nach links ab und schritt zügig aus. Die Kamera holte bis auf wenige Meter auf. Sie fing das wehende Haar des Mädchens ein.
Doch plötzlich blieb sie stehen, drehte sich um und sah genau in die Kamera.
«Verpiss dich!», schrie sie und hob den rechten Arm. Etwas blitzte darin auf. Die Kamera wurde kurz geblendet. Sie hatte ein Foto geschossen.
«Verpiss dich, oder ich rufe die Polizei.»
Die Kamera bewegte sich nach vorn.
Das Mädchen ließ die Handtasche von der Schulter gleiten. Sie hielt sie am Riemen fest, als handele es sich dabei um eine Schleuder.
«Komm bloß nicht näher, ich schwöre dir, ich schlag zu.»
Aber die Kamera kam näher.
Das Mädchen holte aus, schlug zu und ließ im letzten Moment den Riemen los. Die Tasche flog auf die Kamera zu. Das Bild ruckelte, jemand schrie auf, die Kamera fiel zu Boden, filmte aber weiter. Sie zeigte, wie das Mädchen davonlief. Aber nur für einen kurzen Moment, dann wurde die Kamera vom Boden hochgerissen und folgte dem Mädchen. Unruhige, hektische Bilder. Schweres Atmen. Die Kamera holte das Mädchen ein, es bekam einen Stoß in den Rücken, schrie auf, stolperte und fiel gegen die Böschung.
Das Mädchen drehte sich um und schob sich ein Stück hoch. Ihre Augen waren vor Angst und Panik weit aufgerissen.
Die Kamera wurde ruhiger, zitterte aber noch leicht. Sie kam bis auf zwei Meter heran. Im Hintergrund atmete jemand laut und schnell.
Und dann verharrte die Kamera auf dem Gesicht des Mädchens, als habe sie sich darin verliebt.
D er Motor des VW Golf brummte zuverlässig vor sich hin . Seit die Stadtgrenze hinter uns lag, war es dunkel geworden um uns herum. Hier draußen gab es keine Straßenlaternen. Manuela mochte diese Abgeschiedenheit nicht, das wusste ich, doch mir gefiel sie. Auf meinen langen Bergtouren war ich oft tagelang allein, und das machte mir nie etwas aus. Danach kehrte ich gern zurück, aber ohne meine Fluchten konnte ich nicht leben.
Ich hatte Manuelas Angebot, mich nach Hause zu fahren, gern angenommen. Allerdings hatte sich die Abfahrt um einiges verzögert, weil Manuela an einer Einsatzbesprechung hatte teilnehmen müssen. Ich wäre gern dabei gewesen, aber Kieling hatte es mit der Begründung abgelehnt, ich sei schließlich nur ein Zivilist, im besten Fall ein Zeuge, wenn auch ein unsicherer. In diesem Leben würden wir wohl keine Freunde mehr werden.
Kieling hatte Manuela als Verbindungsbeamtin zu den Ermittlern der Dienststelle für Online-Kriminalität beim BKA eingesetzt. Mit Computern hatte er es nicht so, er verstand schon den Fachjargon nicht. Dagegen war Manuela auf dem Gebiet wirklich fit, viel fitter als ich. Sie hatte mit den Ermittlern in Wiesbaden telefoniert, hochqualifizierten Fachkräften. Aber zur Deathbook-Seite hatten sie noch keinen Zugang gefunden. Also hatten sie sie aus dem Netz gelöscht. Doch sobald sie den Code von der Visitenkarte erneut scannten, war die Startseite wieder da. Offenbar gab es Spiegelseiten auf verschiedenen Servern weltweit. Jan hatte mir bereits davon erzählt: Die Chance, die Seite endgültig vom Netz zu nehmen, war nicht sehr hoch. Am schnellsten, so das BKA , würde es gehen, wenn wir den dafür verantwortlichen Betreiber finden würden.
Den Deathbook-Killer.
Zwar hatte ich in kurzer Zeit eine Menge herausgefunden, aber es reichte noch lange nicht. Und ohne die Latex-Oma standen wir sogar noch schlechter da. Manuela gegenüber nannte ich ihn den Blogger, nicht Latex-Oma. Denn so skurril und in Ansätzen komisch seine Erscheinung auch gewesen sein mochte – der Hintergrund war einfach zu ernst, um ihn ins Lächerliche zu ziehen.
«Erzähl mir mehr», forderte Manuela mich auf.
«Wenn du den Blog liest, weißt du, welch Geistes Kind dieser Mann ist. Aber nicht alles, was er verzapft, ist dumm. Mittlerweile habe ich sogar den Eindruck, alles basiert auf seinen Erfahrungen mit dem Deathbook. Vielleicht hat er im Laufe des vergangenen Jahres ein wenig die Kontrolle verloren, aber …»
«Im Laufe des vergangenen Jahres?», unterbrach Manuela mich.
Ich nickte. «Er behauptet, vor einem Jahr den ersten Kontakt zum Deathbook gehabt zu haben. Damals noch in Dänemark, wo er angeblich als Journalist gearbeitet hat. Er ist durch Internetrecherchen auf eine Seite gestoßen, die damit warb, Menschen beim Sterben zu zeigen. Dabei soll es sich um schlecht gemachte Handyaufnahmen aus Altenheimen und Krankenhäusern gehandelt
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