Deathbook (German Edition)
lagen eng am massigen Schädel an. Die blauen Augen strahlten Ruhe und Gelassenheit aus. Ann-Christin sah ihm an, dass er sich in dieser Umgebung wohl fühlte und sich seiner Sache sicher war.
Er trug noch immer den blutverschmierten Kittel, und auch auf seiner Stirn klebte noch ihr Blut. In der einen Hand hielt er ein Stativ, in der anderen eine große schwarze Kamera. Mit dieser Kamera hatte er Ann-Christin vor ein paar Stunden auf dem Nachhauseweg gefilmt. Sie erinnerte sich sehr gut an das schwarze Auge, das sie so ungeniert angeglotzt hatte. War das wirklich erst einige Stunden her? Ihr schien es, als befände sie sich seit einer Ewigkeit in seiner Gewalt.
Quindt lächelte sie an. Es war ein warmes, mitfühlendes Lächeln, das die Umstände und das Blut an seinem Körper ignorierte. Glaubte er wirklich, dass sie sterben wollte? Dass sie ihm den Liebesbeweis erbringen wollte, von dem er gesprochen hatte? War er wirklich so verrückt?
«Meine Schöne, es tut mir leid, ich habe dich warten lassen. Ich habe heute noch einen anderen Gast hier. Aber jetzt geht es gleich los!»
Er legte die Kamera auf der Arbeitsplatte ab und stellte das Stativ auf. Dann montierte er die Kamera darauf.
«Ich beneide dich wirklich, weißt du», sagte er. «Du gehst voraus und erlangst dieses großartige Wissen, nach dem sich alle Menschen sehnen. Mein Vater hat immer gesagt: Wenn die Menschen mehr über den Tod wüssten, dann wäre die Erde ein verwaister Ort. Mein Vater war wirklich ein kluger Mann, musst du wissen, er hat mich gelehrt, Respekt vor dem Tod zu haben. Als er starb, war er verbittert darüber, wie die Menschen heutzutage mit dem Tod umgehen. Ich bin wirklich froh, dass er nicht mehr erleben musste, wie schlimm es geworden ist. Und daran ist einzig und allein das Internet schuld. Weißt du, warum?»
Ann-Christin überlegte fieberhaft, was sie zu ihm sagen konnte, um ihn vielleicht doch noch von seinem Vorhaben abzubringen. Sie musste irgendwie zu ihm durchdringen. Noch fiel ihr nichts ein.
«Nein», sagte sie.
«Es ist offensichtlich. Man muss sich nur auskennen mit den menschlichen Bedürfnissen und Schwächen. Eines ist dem Menschen genauso wichtig wie Essen und Schlaf: Erhöhung. Jedes Individuum will sich abheben, will höher stehen als die anderen. Deswegen erniedrigen sich die Menschen gegenseitig. Durch Kriege, Morde, Vergewaltigungen, Demütigungen, Diebstahl – ja, sogar Sex ist eine Form der Demütigung. Es ist dem Menschen immanent, sich selbst zu erhöhen. Und noch nie in der Geschichte der Evolution war es einfacher als heute. Denn selbst die Feigsten unter uns haben jetzt die Möglichkeit, öffentlich über andere zu urteilen. Sie tun es aus der Anonymität des Internets heraus. Sie lästern, schmähen und beurteilen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Sie sind so dumm zu glauben, sie müssten auch den Tod nicht mehr fürchten. Aber ich bringe ihnen die Furcht zurück, und es ist nur logisch und zwangsläufig, dass ich es über das Internet tue.»
«Aber was hab denn ich damit zu tun? Ich fürchte doch den Tod. Ich will nicht sterben, lass mich bitte gehen … bitte …», flehte Ann-Christin.
Sie verstand nicht, was er da sagte, wusste nicht, wo sie einhaken sollte, um ihn zu erreichen, also flehte sie.
Er schenkte ihr erneut sein warmes Lächeln.
«Meine Schöne, durch mich wirst du ewig da sein. Ich nehme dich in mein Deathbook auf und schenke dir damit Unsterblichkeit.»
«Ich will aber nicht unsterblich sein, ich will leben», sagte Ann-Christin. «Bitte, lass mich leben!»
Er hielt mit seiner Arbeit inne und sah sie an. Nichts hatte sich an seinem Lächeln verändert. Sie war nicht zu ihm durchgedrungen.
«Das Leben ist nichts, Ann-Christin, der Tod aber ist alles. Erst wenn die Menschen das verstanden haben, können sie tief in ihrem Inneren wirklich frei sein. Glaub mir … Das Leben ist nichts, der Tod aber ist alles.»
Mit diesen Worten wandte er sich ab und widmete sich der Einstellung seiner Kamera.
Was er gesagt hatte, rief Ann-Christin plötzlich etwas in Erinnerung. Der Text, den sie wenige Tage nach dem Tod ihrer Mutter online gefunden und auswendig gelernt hatte. Die einzigen Worte, die ihr in der schweren Zeit wirklich Trost gespendet hatten. Sie wusste nicht mehr, von wem der Text stammte, konnte sich aber an jedes einzelne Wort erinnern. An die Kraft und die Zuversicht, die darin steckten.
Sie begann zu rezitieren. Laut und deutlich.
«Der Tod ist nichts, ich
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