Deathbook (German Edition)
diesen Habermann, sagen ihm, was wir wissen, dann kann er sich darum kümmern. Wir sind raus.»
«Dann stirbt Ann-Christin.»
«Sag das bitte nicht so, als ob es meine Schuld wäre. Ich habe wirklich alles versucht. Ich verliere meinen Job, wenn ich Kielings Anordnung missachte. Los, zurück zum Wagen. Wir fahren.» Sie drehte sich um und ging über die Straße.
Ich blieb stehen. Nichts Verdächtiges auf dem Grundstück des Bestattungsunternehmens. Kein Licht, kein Geräusch, gar nichts. Dabei spürte ich doch, wie nah ich dran war. Nur diese beschissenen Gitterstäbe trennten mich von dem Mann, der meine Nichte Kathi auf dem Gewissen hatte. Die Gitterstäbe und der Rechtsstaat. Ich durfte hier nicht einfach so eindringen, und ich durfte Manuela nicht erneut in Verlegenheit bringen.
In meinem Inneren kämpfte Logik gegen Gefühl. Intuition gegen Fakten. Ich war drauf und dran, einen Alleingang zu wagen, legte meine Hände um die Gitterstäbe und rüttelte leicht an dem Tor.
«Andreas … bitte lass das», rief Manuela hinter mir. «Kieling wird mir die Schuld geben.»
Ich ließ die Gitterstäbe los und drehte mich zu ihr um. So langsam, als steckten meine Füße in flüssigem Beton, trat ich vom Bürgersteig auf die Straße. Ich kam mir vor wie ein Verräter. Ann-Christin hatte auf meine Hilfe gesetzt. Ich hatte schon Kathi nicht helfen können und würde auch hier wieder versagen. Nur weil Kieling, dieser ignorante Beamtenarsch, es sich nicht …
Diesmal klingelte mein Handy.
Mitten auf der Straße blieb ich stehen und holte es hervor. Es war dieselbe Nummer, die mir die Todesvideos von Julia Neige und Mario Böhm geschickt hatte. Aber diesmal schickte er keine SMS , er rief an.
Ich winkte Manuela zu mir her.
«Das ist er», rief ich und presste das Handy ans Ohr.
«Ja.»
Die grauenhaft verzerrte Stimme sprach zu mir:
«Bei jedem Dreh hatten meine Gäste die Möglichkeit, die Todeskandidaten zu retten, dafür habe ich gesorgt. Sie mussten sich entscheiden. Entweder filmen und davonkommen oder helfen und Opfer werden. Nicht einer hat geholfen. Wie sieht es mit Ihnen aus, Schriftsteller? Werden Sie Ann-Christin retten?»
Ich wollte etwas sagen, aber das Gespräch war schon beendet.
Manuela tauchte neben mir auf. «Was ist los?»
«Das war …»
Eine SMS ging ein. Ich öffnete sie, fand einen Link und tippte ihn an.
Es war ein Video, was sonst.
Die Kamera befand sich in einem hell ausgeleuchteten Raum, die Wände waren weiß gekachelt. Das Objektiv war fest auf einen großen metallenen Tisch gerichtet, dessen Liegefläche schräg gestellt war. Auf diesem Tisch war Ann-Christin festgeschnallt. Um ihre Hand- und Fußgelenke lagen dicke Lederbänder. Sie trug nur ihre Unterwäsche. Zwei Schläuche steckten in ihren Oberschenkeln. Ein Schlauch führte zu einem Dialysegerät. Blut floss hindurch. Der andere Schlauch führte zu einem rollbaren, zylinderförmigen Metallbehälter. Auf dem Deckel war ein Druckmanometer angebracht. Die Zeiger ruhten in der Ausgangsposition, der Schlauch war leer.
Ann-Christins Augen zuckten hin und her. Ihr Mund bewegte sich unter dem Streifen Paketband, doch ihre Worte drangen nicht bis zur Kamera.
Von links trat jemand ins Bild. Ein großer, kräftiger Mann in weißem, blutverschmiertem Kittel. Vor dem Gesicht trug er die Deathbook-Maske. Er legte seine Hand an einen Schalter des Dialysegerätes. Ein klobiger Totenkopfring steckte am Ringfinger.
«Sieh her, Schriftsteller, diesen Schalter musst du betätigen, dann kannst du das Mädchen retten. Aber vielleicht siehst du dir ja lieber dieses Video zu Ende an? So wie alle anderen.»
Er trat näher an die Kamera, bis die Maske mit den Blutfäden vor den Augen das Bild ausfüllte.
«Du hast deinen Beitrag nicht geleistet, Schriftsteller. Das nächste Video drehen wir von dir.»
Der Mann trat aus dem Bild und gab den Blick auf Ann-Christin frei. Das Video endete nicht, es lief weiter.
Ich schaltete mein Handy aus.
«Um Gottes willen … was macht er mit dem Mädchen?», fragte Manuela mit heiserer Stimme.
Ich wusste, was er tat. Die Gerätschaften, die er benutzte, waren mir bekannt. Als ich noch nicht vom Schreiben leben konnte, war ich ein paar Jahre Taxi gefahren. Unter anderem hatte ich Dialysepatienten befördert. Da viele von ihnen nach der Dialyse geschwächt waren und nicht allein gehen konnten, war ich oft genug auf der Station gewesen, um sie abzuholen und zum Taxi zu begleiten. Ich wusste daher, wie eine
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